004 - NACH CHILOÉ UND VALDIVIA
17/05/19 00:00
Hallo Ihr Lieben!
Mitte April im idyllischen »Estéro Atracadero«, »Isla Melchor«. Ausser uns wohnen nur pelzige »Arctocephalinae« und springlebendige »Delphinidae« hier. Seit Tagen regnet es Tiernamen. Draussen im »Canal Moraleda« heult und schäumt der Sturm, aus Norden natürlich, 40 Knoten, Stärke acht. Die Angelsachsen haben ein gutes Wort dafür: »Dreadful«. Aber wem sag’ ich das. Wir warten hier einmal mehr auf ein Wetterfenster zur Weiterfahrt gen Norden. Morgen vielleicht? Laut derzeitigem GFS sieht es nach drei bis vier brauchbaren Tagen aus. Schwacher Südwind ist angesagt, so wie es unser grüner Herr VOLVO mag. Nur zu gerne würden wir weiter Strecke machen. Unsere schwedischen Freunde von der CLARY haben uns zu lange von den Herrlichkeiten der »Isla Chiloé« vorgeschwärmt, der Sommerhitze, dem »basking and bathing«… Aber das ist nun auch bald sechs Wochen her. Mittlerweile ist uns der Winter auf den Fersen, spürbar, nasskalt und jeden Tag dunkler. Nach anderthalb Jahren in Kälte, Schnee und Regen reicht es. In unseren Träumen malen wir uns die kleine »Marina Quinched« auf der »Isla Chiloé« in den herrlichsten Regenbogenfarben aus. Gut angebunden sein, Landstrom einstecken, heiß duschen, Pause machen, ein Auto mieten, in der Hauptstadt Castro die Beine vertreten, echte Supermärkte mit Brezeln und frischem Obst leerkaufen, Internet… Man möchte weinen, wenn man an all diese Herrlichkeiten denkt. In einer Woche könnten wir dort sein, sofern das Wetter mitspielt.
Ein neuer Tag, Aprilwetter. Immerhin lugt gelegentlich die Sonne durch. Schwacher Südwind? Leider nein. Nord, zwanzig Knoten, direkt auf die Nase. Normal das. Bei 2.300 Umdrehungen schiebt Herr VOLVO das Schiff mit fünf Knoten durchs Wasser. Strom gegen Wind: Ruppelige Katzenköpfe lassen die VERA nicken, wie ein altes Pferd. Nicht auszudenken, was wäre, wenn Herr VOLVO hier unten in der Wildnis krank würde. Sicherheitshalber füttern wir ihn nur mit reiner Luft und sauberstem Diesel, doppelt und dreifach gefiltert. Alle paar Tage öffnen wir die sauschwere Motorhaube und führen eine sorgfältige Sichtkontrolle durch: Öl- und Kühlwasserstände, evtl. Öl- oder Wasserleckagen, die Stopfbuchse, der Seewasserfilter, die Keilriemenspannung, all dies gilt es zu kontrollieren. Von anderen Booten auf dieser Route hört man viel fürchterliches: Getriebeschäden, meist an Hydraulikgetrieben, Kurbelwelle gebrochen, beides vielleicht wegen Blockaden durch Eis, Kelp oder Leinen in der Schraube? Auch dabei: Einspritzpumpe ausgefallen, Einspritzdüsen mit Bakterien verklebt, Salzwasser im Motoröl, Salzwasser im Getriebeöl, Diesel im Motoröl, so das der Motor irgendwann von selber läuft. Dieselpest und Schlamm im Dieseltank… All diese Unbill gilt es auf der VERA unbedingt zu vermeiden.
STB querab liegt das Fischerdorf »Puerto Aguirre«. Immer öfter liegen nun »Salmoneras« am Wegesrand, Lachsfarmen, mit dicken Markierungstonnen und wuchtigen Versorgungsschiffen. Es riecht nach Umweltverschmutzung und Antibiotika. Ist das nachhaltiger, als der industrielle Fischfang auf den leergefischten Weltmeeren? Schwer zu sagen. Das Grundproblem ist die Überbevölkerung, aber nicht die mit Fischen.
»Puerto Ballena«, »Isla Mulchey«, am Ausgang des »Canal Moraleda«. Ein sonniger Abend. Endlich. Pierre und Ping, das nette südafrikanisch chinesische Paar mit den zwei munteren Kindern (9 und 11), lädt uns aufs Achterdeck der ITHACA ein. Rippchen liegen auf dem Grill und im Dampfkochtopf duften die selbstgefangenen Krabben. Pierre und Ping haben jahrelang als Softwareingenieure für SAP gearbeitet. Nun zieht es sie fort von Südafrika. Über Tahiti planen sie in die USA zu segeln, oder nach Südostasien, irgendwohin, wo es gute Jobs gibt. In Südafrika sehen sie keine Perspektive mehr, weder für sich, noch für ihre Kinder. Wir beraten die Strategie. Vor uns liegt der übel beleumundete »Golfo Corcovado«. »Der Bucklige«, laut unserer »Holy Bible« das letzte große Problem auf dem Weg nach »Isla Chiloé«. Acht Meter Tidenhub an guten Tagen, acht Knoten Strom und dazu die mörderische Dünung des »Southern Ocean«. Morgen früh laufen wir aus, vor Tau und Tag. Das GFS verspricht angenehmen SW um die 15 Knoten. Wünscht uns Glück.
19. April, »Golfo Corcovado«: Ein stahlblauer Himmel wölbt sich über ITHACA und VERA. Ölige See. Lang atmet der Pazifik. Schwacher Wind aus Nordwest, Motorsegeln. Was soll’s. Diesel haben wir noch genug an Bord. Zeit zum Wäsche waschen und zum Duschen. An STB erheben sich die schneebedeckten Kordilleren, dominiert von der gleißenden Pyramide des »Corcovado«, ein gut zwei Kilometer hoher Stratovulkan am südamerikanischen Ende des pazifischen »Ring of fire«. Achteraus hüllen sich tausend Seemeilen patagonische Kanäle in schwarze, regenschwangere Wolken. Lebt wohl. Wir werden Euch vermissen, irgendwann. Am Abend erreichen wir »Isla Chiloé« und den »Estéro Huildad«, aus dem eben die Tide mit vier Knoten abläuft. Wir gelangen dennoch gut durch die Einfahrt und ankern sicher auf fettem »Mud«. Ein blutroter Vollmond geht über dem Festland im Osten auf, fast genau über dem spektakulären »Corcovado«. Wunderschön. Es ist getan. Wir köpfen unsere letzte Flasche »Austral«, draussen auf dem Brückendeck, das endlich einmal trocken ist. Gute Nacht.
»Isla Chiloé« fühlt sich anders an als die patagonische Wildnis in unserem Kielwasser und riecht anders, erdiger und nach Holzfeuern. Der Herbst ist da, kühl und feucht. Mit dem »basking and bathing« wird das nichts mehr in dieser Saison. Abgeerntete Felder, Wälder und Wiesen voller buntem Laub. Seit Menschengedenken ist »Isla Chiloé« besiedelt. Hingetupfte bunte Hütten an Land und berühmte hölzerne Kirchen aus der Zeit der Missionare. Die ersten Autos seit langem, dazu Traktoren, Kühe, Schafe und Pferde. Im »Estéro Pailad« wühlen wilde Hausschweine im Modder und suchen nach Muscheln. Hohe Pappeln stehen in herbstgelbem Kleid. Die Sommerhäuser an Land sehen verlassen aus, eingemottet für den Winter. Die meisten Buchten und Ortschaften tragen stolze, indigene Namen aus der »Huilliche-Mapuche« Sprache. »Marina Quinched«, unweit der Inselhauptstadt Castro: Wir quartieren uns für ein paar Tage ein, bei Wasser, Strom und Internet. Rasch ist ein beinahe neuer Mietwagen von Hyundai organisiert, dem es für die hiesigen Pisten ein wenig an Bodenfreiheit mangelt. »Castro«, Inselhauptstadt: Ein Haufen grob gezimmerter Häuser der zweiten, oder dritten Welt, dazu ein paar schicke zeitgenössische Holzbauten am Hafen, die darauf hindeuten, das sich etwas tut vor Ort, in Sachen Qualitätstourismus und Kultur. Derzeit sind die Bürgersteige allerdings hochgeklappt. Die Saison ist zu Ende. Bald schon rollen wir aus der Stadt und erkunden Chiloés zerklüftete Ostküste. Alles wirkt ein wenig planlos und zersiedelt. Ist Homo Sapiens eine Hautkrankheit des blauen Planeten, die sich ausbreitet, oder gar ansteckend ist? Manches erinnert an Skandinavien, Schottland, Cornwall, oder gar an die Havel oder den Müggelsee bei Berlin. Heimat? Wo ist das? Zuletzt zieht es uns an die wilde Westküste. Ein endloser Kieselstrand, an dem auch Charles Darwin einst gestanden und sinniert hat. Irgendwo dort draussen liegt die Südsee und wartet auf uns.
Wir beziehen noch zwei weitere ruhige Ankerplätze auf vorgelagerten Inseln an der Ostküste Chiloés und warten auf brauchbares Wetter, bevor uns sechseinhalb Knoten Tidenstrom durch den »Canal Chacao« nach »Puerto Inglés« und in den Pazifik spülen. Fähren pendeln vom Festland nach Chiloé, Zersiedelung, Ölindustrie, Starkstromleitungen, die über dem Kanal hängen. Wir rasen mit beinahe zwölf Knoten darunter hindurch. Es strudelt und gurgelt. Unheimlich. »Puerto Inglés«: Eine wilde, nach Osten hin völlig offene Bucht, flaches Wasser, »rural views«. Wir ankern weit draussen auf fünf Metern. Der Pazifik atmet tief, auf und ab, beinahe surreal. Ein windiger Platz an der äussersten Nordspitze Chiloés, allerdings mit erfreulichem Internetzugang, der uns einen ersten Überblick über das Verpasste ermöglicht. Morgen soll es flau sein, aber danach verspricht das GFS Südwind für ein paar Tage. Wenn alles gut geht, weht er uns dann aus den »Roaring Forties« hinaus und bis nach Valdivia, ins Winterlager. Eine Idee, die sich gut anfühlt, nach eineinhalb Jahren Wildnis und Abenteuer.
Irgendwo vor der Westküste Südamerikas: Nach einer guten Nacht unter Segeln graut der Morgen. Wir haben soeben den 40. Breitengrad überquert und feiern die Rückkehr in die gemäßigten Breiten, als es in der Funke knackt. ITHACA ist dran. Motorschaden. Salzwasser im Getriebeöl, Salzwasser im Motoröl. Wahrscheinlich ist der Ölkühler hin. Endlich bekommen wir die Gelegenheit, uns für diverse feine Grillabende bei Ping und Pierre zu revanchieren. Da ITHACA nur ein paar Meilen achteraus in der Flaute steht, kehren wir um, überqueren erneut den ominösen 40. Breitengrad und nehmen sie nach einigem hantieren mit schweren Trossen in Schlepp. Trotz ITHACA‘s guten 30 Tonnen und des alten, hoch rollenden Seegangs aus dem »Souther Ocean« klappt das ganz gut. Mit anständig Gas zieht Herr VOLVO beide Boote noch mit drei Knoten durchs Wasser und endgültig in die gemäßigten Breiten. Am Abend erreichen wir überglücklich die Mündung des Rio Valdivia und den in der »Holy Bible« empfohlenen Ankerplatz im Schutz der »Isla Mancera«. Es ist geschafft!
Die nächsten Tage vergehen wie im Flug: Schleppverband den Fluss hinauf bis zu unserem bereits gebuchten Liegeplatz in der »Alwoplast« Werft von Alex Wopper. Taxi nach Valdivia zum einklarieren bei der Armada, frisches Gemüse kaufen auf dem Markt und zum Steak essen mit Ping, Pierre und den Kindern und reichlich kühlem blonden Bier. Die vielen Autos, die vielen Häuser und Geschäfte, ein richtiger Schock. »Alwoplast« bietet auch einen guten Internet Zugang. Wir buchen Bustickets und Flüge, recherchieren diverse Besorgungen und vereinbaren Termine. Stress, richtiger Stress. Zurück in die Wildnis? Raus auf’s Meer, nach Polynesien, in die Südsee? Noch nicht. Es ist Winter hier und es gibt viel zu tun. Wir melden uns wieder, irgendwann. VERA out.
Herzliche Grüße und alles erdenklich Gute wünschen Euch B und M / SY VERA / Valdivia / Chile / POS 39.51,0 S - 073.19,1 W
1 - Wilde Wolkenformationen im spiegelglatten »Canal Moraleda«

2 - »Canal Moraleda«: Bordcafé mit Sahne.

3 - Unsere chilenische Gastlandsflagge nach der patagonischen Wildnis.

4 - »Golfo Corcovado«: Endlich mal ein stahlblauer Himmel.

5 - Der »Corcovado« am Horizont: Ein über 2km hoher Stratovulkan am südamerikanischen Ende des pazifischen »Ring of fire«.

6 - »Isla Chiloé«: VERA in der kleinen »Marina Quinched«.

7 - »Isla Chiloé«: Das kleine Glück.

8 - »Isla Chiloé«: Holzkirche in »Rilán«.

9 - »Isla Chiloé«: Gottesdienst in Holz. Gut funktionierende Gasheizpilze.

10 - »Isla Chiloé«, Westküste, der Pazifik: Irgendwo dort draussen liegt die Südsee und wartet auf uns. Ein Film von B+M.
11 - Schleppverband am 40. Breitengrad. Ein Film von B+M.
12 - Valdivia: Endlich frisches Gemüse!

13 - Unsere Rou
te über »Isla Chiloé« hinauf nach Valdivia.
Mitte April im idyllischen »Estéro Atracadero«, »Isla Melchor«. Ausser uns wohnen nur pelzige »Arctocephalinae« und springlebendige »Delphinidae« hier. Seit Tagen regnet es Tiernamen. Draussen im »Canal Moraleda« heult und schäumt der Sturm, aus Norden natürlich, 40 Knoten, Stärke acht. Die Angelsachsen haben ein gutes Wort dafür: »Dreadful«. Aber wem sag’ ich das. Wir warten hier einmal mehr auf ein Wetterfenster zur Weiterfahrt gen Norden. Morgen vielleicht? Laut derzeitigem GFS sieht es nach drei bis vier brauchbaren Tagen aus. Schwacher Südwind ist angesagt, so wie es unser grüner Herr VOLVO mag. Nur zu gerne würden wir weiter Strecke machen. Unsere schwedischen Freunde von der CLARY haben uns zu lange von den Herrlichkeiten der »Isla Chiloé« vorgeschwärmt, der Sommerhitze, dem »basking and bathing«… Aber das ist nun auch bald sechs Wochen her. Mittlerweile ist uns der Winter auf den Fersen, spürbar, nasskalt und jeden Tag dunkler. Nach anderthalb Jahren in Kälte, Schnee und Regen reicht es. In unseren Träumen malen wir uns die kleine »Marina Quinched« auf der »Isla Chiloé« in den herrlichsten Regenbogenfarben aus. Gut angebunden sein, Landstrom einstecken, heiß duschen, Pause machen, ein Auto mieten, in der Hauptstadt Castro die Beine vertreten, echte Supermärkte mit Brezeln und frischem Obst leerkaufen, Internet… Man möchte weinen, wenn man an all diese Herrlichkeiten denkt. In einer Woche könnten wir dort sein, sofern das Wetter mitspielt.
Ein neuer Tag, Aprilwetter. Immerhin lugt gelegentlich die Sonne durch. Schwacher Südwind? Leider nein. Nord, zwanzig Knoten, direkt auf die Nase. Normal das. Bei 2.300 Umdrehungen schiebt Herr VOLVO das Schiff mit fünf Knoten durchs Wasser. Strom gegen Wind: Ruppelige Katzenköpfe lassen die VERA nicken, wie ein altes Pferd. Nicht auszudenken, was wäre, wenn Herr VOLVO hier unten in der Wildnis krank würde. Sicherheitshalber füttern wir ihn nur mit reiner Luft und sauberstem Diesel, doppelt und dreifach gefiltert. Alle paar Tage öffnen wir die sauschwere Motorhaube und führen eine sorgfältige Sichtkontrolle durch: Öl- und Kühlwasserstände, evtl. Öl- oder Wasserleckagen, die Stopfbuchse, der Seewasserfilter, die Keilriemenspannung, all dies gilt es zu kontrollieren. Von anderen Booten auf dieser Route hört man viel fürchterliches: Getriebeschäden, meist an Hydraulikgetrieben, Kurbelwelle gebrochen, beides vielleicht wegen Blockaden durch Eis, Kelp oder Leinen in der Schraube? Auch dabei: Einspritzpumpe ausgefallen, Einspritzdüsen mit Bakterien verklebt, Salzwasser im Motoröl, Salzwasser im Getriebeöl, Diesel im Motoröl, so das der Motor irgendwann von selber läuft. Dieselpest und Schlamm im Dieseltank… All diese Unbill gilt es auf der VERA unbedingt zu vermeiden.
STB querab liegt das Fischerdorf »Puerto Aguirre«. Immer öfter liegen nun »Salmoneras« am Wegesrand, Lachsfarmen, mit dicken Markierungstonnen und wuchtigen Versorgungsschiffen. Es riecht nach Umweltverschmutzung und Antibiotika. Ist das nachhaltiger, als der industrielle Fischfang auf den leergefischten Weltmeeren? Schwer zu sagen. Das Grundproblem ist die Überbevölkerung, aber nicht die mit Fischen.
»Puerto Ballena«, »Isla Mulchey«, am Ausgang des »Canal Moraleda«. Ein sonniger Abend. Endlich. Pierre und Ping, das nette südafrikanisch chinesische Paar mit den zwei munteren Kindern (9 und 11), lädt uns aufs Achterdeck der ITHACA ein. Rippchen liegen auf dem Grill und im Dampfkochtopf duften die selbstgefangenen Krabben. Pierre und Ping haben jahrelang als Softwareingenieure für SAP gearbeitet. Nun zieht es sie fort von Südafrika. Über Tahiti planen sie in die USA zu segeln, oder nach Südostasien, irgendwohin, wo es gute Jobs gibt. In Südafrika sehen sie keine Perspektive mehr, weder für sich, noch für ihre Kinder. Wir beraten die Strategie. Vor uns liegt der übel beleumundete »Golfo Corcovado«. »Der Bucklige«, laut unserer »Holy Bible« das letzte große Problem auf dem Weg nach »Isla Chiloé«. Acht Meter Tidenhub an guten Tagen, acht Knoten Strom und dazu die mörderische Dünung des »Southern Ocean«. Morgen früh laufen wir aus, vor Tau und Tag. Das GFS verspricht angenehmen SW um die 15 Knoten. Wünscht uns Glück.
19. April, »Golfo Corcovado«: Ein stahlblauer Himmel wölbt sich über ITHACA und VERA. Ölige See. Lang atmet der Pazifik. Schwacher Wind aus Nordwest, Motorsegeln. Was soll’s. Diesel haben wir noch genug an Bord. Zeit zum Wäsche waschen und zum Duschen. An STB erheben sich die schneebedeckten Kordilleren, dominiert von der gleißenden Pyramide des »Corcovado«, ein gut zwei Kilometer hoher Stratovulkan am südamerikanischen Ende des pazifischen »Ring of fire«. Achteraus hüllen sich tausend Seemeilen patagonische Kanäle in schwarze, regenschwangere Wolken. Lebt wohl. Wir werden Euch vermissen, irgendwann. Am Abend erreichen wir »Isla Chiloé« und den »Estéro Huildad«, aus dem eben die Tide mit vier Knoten abläuft. Wir gelangen dennoch gut durch die Einfahrt und ankern sicher auf fettem »Mud«. Ein blutroter Vollmond geht über dem Festland im Osten auf, fast genau über dem spektakulären »Corcovado«. Wunderschön. Es ist getan. Wir köpfen unsere letzte Flasche »Austral«, draussen auf dem Brückendeck, das endlich einmal trocken ist. Gute Nacht.
»Isla Chiloé« fühlt sich anders an als die patagonische Wildnis in unserem Kielwasser und riecht anders, erdiger und nach Holzfeuern. Der Herbst ist da, kühl und feucht. Mit dem »basking and bathing« wird das nichts mehr in dieser Saison. Abgeerntete Felder, Wälder und Wiesen voller buntem Laub. Seit Menschengedenken ist »Isla Chiloé« besiedelt. Hingetupfte bunte Hütten an Land und berühmte hölzerne Kirchen aus der Zeit der Missionare. Die ersten Autos seit langem, dazu Traktoren, Kühe, Schafe und Pferde. Im »Estéro Pailad« wühlen wilde Hausschweine im Modder und suchen nach Muscheln. Hohe Pappeln stehen in herbstgelbem Kleid. Die Sommerhäuser an Land sehen verlassen aus, eingemottet für den Winter. Die meisten Buchten und Ortschaften tragen stolze, indigene Namen aus der »Huilliche-Mapuche« Sprache. »Marina Quinched«, unweit der Inselhauptstadt Castro: Wir quartieren uns für ein paar Tage ein, bei Wasser, Strom und Internet. Rasch ist ein beinahe neuer Mietwagen von Hyundai organisiert, dem es für die hiesigen Pisten ein wenig an Bodenfreiheit mangelt. »Castro«, Inselhauptstadt: Ein Haufen grob gezimmerter Häuser der zweiten, oder dritten Welt, dazu ein paar schicke zeitgenössische Holzbauten am Hafen, die darauf hindeuten, das sich etwas tut vor Ort, in Sachen Qualitätstourismus und Kultur. Derzeit sind die Bürgersteige allerdings hochgeklappt. Die Saison ist zu Ende. Bald schon rollen wir aus der Stadt und erkunden Chiloés zerklüftete Ostküste. Alles wirkt ein wenig planlos und zersiedelt. Ist Homo Sapiens eine Hautkrankheit des blauen Planeten, die sich ausbreitet, oder gar ansteckend ist? Manches erinnert an Skandinavien, Schottland, Cornwall, oder gar an die Havel oder den Müggelsee bei Berlin. Heimat? Wo ist das? Zuletzt zieht es uns an die wilde Westküste. Ein endloser Kieselstrand, an dem auch Charles Darwin einst gestanden und sinniert hat. Irgendwo dort draussen liegt die Südsee und wartet auf uns.
Wir beziehen noch zwei weitere ruhige Ankerplätze auf vorgelagerten Inseln an der Ostküste Chiloés und warten auf brauchbares Wetter, bevor uns sechseinhalb Knoten Tidenstrom durch den »Canal Chacao« nach »Puerto Inglés« und in den Pazifik spülen. Fähren pendeln vom Festland nach Chiloé, Zersiedelung, Ölindustrie, Starkstromleitungen, die über dem Kanal hängen. Wir rasen mit beinahe zwölf Knoten darunter hindurch. Es strudelt und gurgelt. Unheimlich. »Puerto Inglés«: Eine wilde, nach Osten hin völlig offene Bucht, flaches Wasser, »rural views«. Wir ankern weit draussen auf fünf Metern. Der Pazifik atmet tief, auf und ab, beinahe surreal. Ein windiger Platz an der äussersten Nordspitze Chiloés, allerdings mit erfreulichem Internetzugang, der uns einen ersten Überblick über das Verpasste ermöglicht. Morgen soll es flau sein, aber danach verspricht das GFS Südwind für ein paar Tage. Wenn alles gut geht, weht er uns dann aus den »Roaring Forties« hinaus und bis nach Valdivia, ins Winterlager. Eine Idee, die sich gut anfühlt, nach eineinhalb Jahren Wildnis und Abenteuer.
Irgendwo vor der Westküste Südamerikas: Nach einer guten Nacht unter Segeln graut der Morgen. Wir haben soeben den 40. Breitengrad überquert und feiern die Rückkehr in die gemäßigten Breiten, als es in der Funke knackt. ITHACA ist dran. Motorschaden. Salzwasser im Getriebeöl, Salzwasser im Motoröl. Wahrscheinlich ist der Ölkühler hin. Endlich bekommen wir die Gelegenheit, uns für diverse feine Grillabende bei Ping und Pierre zu revanchieren. Da ITHACA nur ein paar Meilen achteraus in der Flaute steht, kehren wir um, überqueren erneut den ominösen 40. Breitengrad und nehmen sie nach einigem hantieren mit schweren Trossen in Schlepp. Trotz ITHACA‘s guten 30 Tonnen und des alten, hoch rollenden Seegangs aus dem »Souther Ocean« klappt das ganz gut. Mit anständig Gas zieht Herr VOLVO beide Boote noch mit drei Knoten durchs Wasser und endgültig in die gemäßigten Breiten. Am Abend erreichen wir überglücklich die Mündung des Rio Valdivia und den in der »Holy Bible« empfohlenen Ankerplatz im Schutz der »Isla Mancera«. Es ist geschafft!
Die nächsten Tage vergehen wie im Flug: Schleppverband den Fluss hinauf bis zu unserem bereits gebuchten Liegeplatz in der »Alwoplast« Werft von Alex Wopper. Taxi nach Valdivia zum einklarieren bei der Armada, frisches Gemüse kaufen auf dem Markt und zum Steak essen mit Ping, Pierre und den Kindern und reichlich kühlem blonden Bier. Die vielen Autos, die vielen Häuser und Geschäfte, ein richtiger Schock. »Alwoplast« bietet auch einen guten Internet Zugang. Wir buchen Bustickets und Flüge, recherchieren diverse Besorgungen und vereinbaren Termine. Stress, richtiger Stress. Zurück in die Wildnis? Raus auf’s Meer, nach Polynesien, in die Südsee? Noch nicht. Es ist Winter hier und es gibt viel zu tun. Wir melden uns wieder, irgendwann. VERA out.
Herzliche Grüße und alles erdenklich Gute wünschen Euch B und M / SY VERA / Valdivia / Chile / POS 39.51,0 S - 073.19,1 W
1 - Wilde Wolkenformationen im spiegelglatten »Canal Moraleda«

2 - »Canal Moraleda«: Bordcafé mit Sahne.

3 - Unsere chilenische Gastlandsflagge nach der patagonischen Wildnis.

4 - »Golfo Corcovado«: Endlich mal ein stahlblauer Himmel.

5 - Der »Corcovado« am Horizont: Ein über 2km hoher Stratovulkan am südamerikanischen Ende des pazifischen »Ring of fire«.

6 - »Isla Chiloé«: VERA in der kleinen »Marina Quinched«.

7 - »Isla Chiloé«: Das kleine Glück.

8 - »Isla Chiloé«: Holzkirche in »Rilán«.

9 - »Isla Chiloé«: Gottesdienst in Holz. Gut funktionierende Gasheizpilze.

10 - »Isla Chiloé«, Westküste, der Pazifik: Irgendwo dort draussen liegt die Südsee und wartet auf uns. Ein Film von B+M.
11 - Schleppverband am 40. Breitengrad. Ein Film von B+M.
12 - Valdivia: Endlich frisches Gemüse!

13 - Unsere Rou

003 - DURCH DEN KANAL MESSIER UND ÜBER DEN GOLFO DE PENAS
12/04/19 00:00
Hallo Ihr Lieben!
»Caleta Yvonne«, 30 Seemeilen nördlich von »Puerto Edén«, Idylle in der Wildnis. Mit dem Anker und drei Landleinen liegen wir hier sicher verzurrt. Es regnet in Strömen, Katzen und Hunde, aber wem sag‘ ich das. Draussen im »Kanal Messier« heult und schäumt der Sturm, 50 Knoten, Stärke zehn. Die Engländer haben ein gutes Wort dafür: »Dreadful«. Doch immerhin: Wir sind wieder auf der Piste, nach einer langen, dem üblen Wetter geschuldeten Woche in »Edén«. Ausser uns lagen noch fünf weitere Boote tagelang dort fest. Besonders an die netten Abende mit Ivar und Floris von der SY LUCIPARA 2 (www.sailorsforsustainability.nl) werden wir uns immer gern erinnern. In derselben Saison in einem so abgelegenen Revier unterwegs zu sein führt zu einer Gemeinschaft, die Ähnlichkeiten mit einem Schuljahrgang hat. Man redet miteinander, tauscht Nachrichten und Gerüchte aus und lernt sich zu schätzen, selbst, wenn man nicht immer so recht zusammenpasst.
Bei Tagesanbruch im »Kanal Messier«: Die Landschaft in dieser Gegend ist natürlich schon grandios, gerade wenn man unterwegs ist und einmal die Sonne herausguckt. Unerwartet romantische Bilder liegen links und rechts am Weg: Puderzucker in den erhabenen Bergen am Kanal, frisch gefallen in der letzten Nacht. Das rostige, aber noch immer imposante Wrack der MV CAPTAIN LEONIDAS, die 1968 mitten im »Kanal Messier« auf einen Felsen lief. Milchig trübes Wasser am Ausgang des »Seno Iceberg«, in dem Herden von Delphinen mit dem unschuldigen Krill spielen. Märchenhaft. Für Morgen und übermorgen verspricht das GFS Flaute aus Süden. Mit einem Zwischenstopp in der »Caleta Chaski« hoffen wir, in zwei ökonomischen Tagen die »Isla Wager« und den Ausgang in den »Golfo de Penas« zu erreichen. Der »Gulf of Misery« gilt als Königsetappe auf dem Weg von hier in die wärmeren Regionen Chiles, die mit der »Isla Grande de Chiloé« beginnen sollen. »Basking and bathing«. Zukunftsmusik. Und bloß keine Fehler machen.
08. April 2019, »Caleta Ideal«, ein gut geschützter Ankerplatz zwischen »Isla Wager« und »Isla Schröder«. Ausser uns sind noch zwei Boote hier, MARGUERITE aus Frankreich und ITHACA aus Südafrika. Wir alle warten auf ein passendes Wetterfenster für den vermaledeiten »Golfo«. Heute Nordwind Stärke 7, strömender Regen. Nichts neues also. Zeit für Literatur. »Isla Wager«: Verfilzte, undurchdringliche Wildnis. Wahrscheinlich hat sich hier sehr wenig verändert in tausenden von Jahren. »Mount Wager« und »Mount Anson« an BB, kaum zu erkennen in den Regenböen. Am 18. September 1740 verließ Kommodore George Anson England mit einem kleinen Geschwader von Kriegsschiffen, umschiffte Kap Hoorn, brannte die Stadt Payta in Peru nieder, kaperte die Manila Galeone, und segelte über die Philippinen, China und das Kap der guten Hoffnung zurück nach England, wo er am 15. Juni 1744 eintraf, den Laderaum seiner HMS CENTURION bis zum Bersten mit Gold gefüllt (siehe George Anson: »A voyage round the world in the years MDCCXL, I, II, III, IV«). Es lief jedoch beileibe nicht alles glatt auf dieser Erfolgsexpedition (u.a. kehrten nur etwa 500 der 1.400 Besatzungsmitglieder nach England zurück). Vor Kap Hoorn geriet das britische Geschwader in schweres Wetter und wurde übel gebeutelt. Für den Fall, das man sich aus den Augen verlöre, hatte Kommodore Anson die »Juan Fernandez« Inseln (oder auch Alexander Selkirk / Robinson Crusoe Inseln, siehe Daniel Defoe), ca. 800 Seemeilen nordwestlich von hier vor der Küste Chiles gelegen, als Treffpunkt vor der Weiterfahrt nach Mittelamerika bestimmt. Ein paar Monate lang wartete man vergeblich auf einige der wertvollsten Schiffe. Unter anderem fehlte die HMS WAGER unter Kapitän Cheap. Die 30 Kanonen Fregatte blieb spurlos verschwunden. Erst als Anson 1744 nach London zurückkehrte, sollte er erfahren, das die HMS WAGER Mitte Mai 1741 in schwerem Sturm vor der Küste Patagoniens auf einem Riff verloren ging, das sich keine fünf Seemeilen nordwestlich von unserem derzeitigen Ankerplatz befindet, auf eben dieser, heute »Wager Island« genannten völlig lebensfeindlichen felsigen Insel, gleich hinter dem »Mount Misery« den man später in »Mount Anson« umbenannte. Die Überlebenden bezogen in ihrer Not ein notdürftiges Winterquartier in Zelten und Hütten. Zunächst besaß man noch einigen Proviant, dazu Wein und Rum, Holz, Waffen und Werkzeug aus dem Wrack. Man trieb Handel mit verschiedenen »Mapuche« Indianerstämmen, doch sehr bald wurden im Dauerschnee- und Graupelsturm die Nahrungsmittel knapp. Kapitän Cheap plante im kommenden Sommer mit den verbliebenen Beibooten nach Norden zu segeln, und dort die spanischen Kriegsgegner um Gnade zu bitten. Ein Teil der Besatzung, angeführt von dem charismatischen Kanonier John Bulkeley, war anderer Meinung. Um der drohenden Zwangsarbeit und dem Tod in den finsteren spanischen Bergwerken in Chile und Peru zu entgehen, wollten sie versuchen, mit einem der Boote durch die Straße des Magellans nach Brasilien zu gelangen, um von dort mit einem portugiesischen Schiff nach Europa zurückzukehren. Kein Wunder, das es zum Streit und zur Trennung kam, die Kapitän Cheap als Meuterei betrachtete. Nach abenteuerlichen Erlebnissen und unsäglichen Strapazen erreichten John Bulkeley und ein paar Getreue London im Januar 1743. Kapitän Cheap und einige überlebende Offiziere benötigten zwei Jahre länger. Das darauf folgende Kriegsgericht der Admiralität führte zum Freispruch für Bulkeley und seine Leute. Wer nachlesen möchte, findet alles wissenswerte in diesem kleinen Buch: »Byron & Bulkeley / The Wreck of the WAGER / The folio society 1983«. Es enthält zwei fein geschriebene Berichte: John Bulkeley - »A voyage to the south seas in the year 1740-1« und John Byron - »The narrative of the honourable John Byron«. Byron? Ja genau. John Byron, der spätere Lord Byron und Großvater des berühmten Dichters George Gordon Byron (oder auch Lord Byron). John Byron hatte als 16 jähriger Offiziersanwärter (Midshipman) auf der HMS WAGER angeheuert. Natürlich blieb er, wie alle überlebenden Offiziere, treu an der Seite von Kapitän Cheap. So ergeben sich hier zwei gegensätzliche, einander ergänzende Betrachtungen derselben Ereignisse, was sehr spannend zu vergleichen ist, natürlich am besten am Kaminfeuer in einem bequemen Sessel und einem Glas bernsteinfarbenem »Shackleton« zur Hand.
Einen Tag später ist es so weit. Nach einer Nacht mit pladderndem Starkregen klart es auf und der Wind dreht über West auf Südwest. Nach ITHACA, MARGUERITE und EASTERN STREAM laufen wir im Schutz von Wager Island in einen herrlichen Morgen. Das GFS verspricht SW um die 20 Knoten, komfortables Segeln also, »Beam Reaching« unter blauem Himmel und das über den »Gulf of Misery«… zu schön um wahr zu sein. Natürlich frischt der Wind bald auf, 30, dann 40 Knoten aus WSW, Stärke sieben bis acht. Bald haben wir nur noch das durchgereffte Groß und den kleinen Kutter stehen, mehr als genug für diese Bedingungen. Bei Erreichen der offenen See gesellt sich der passende Seegang zum Wind. Leider liegt der »Golfo de Penas« zur Gänze auf dem südamerikanischen Kontinentalschelf. Bei um die 100 Metern Wassertiefe erzeugen westliche Winde einen infernalischen Seegang, der wohl eine der Ursachen für den Verlust der HMS WAGER sein dürfte. So wie die Dinge stehen, werden auch wir bald übel gebeutelt und gut geduscht. Brecher waschen über das Deck und füllen mehrfach das Cockpit, während die VERA an den vor uns ausgelaufenen, schwerfälligeren Fahrtenyachten vorbei fliegt wie der Habicht an den Hühnern. M nimmt draussen zwei Vollbäder, leider wieder ohne Trockenanzug. Die Engländer haben ein gutes Wort dafür: »Miserable«. Da nützt auch der blaue Himmel wenig.
Bei Sonnenuntergang passieren wir »Capo Raper« (guter Name, gell?) und können nach NE abfallen. Der SW kommt jetzt also genau von achtern. Komfortabler ist das kaum. Wegen des vermaledeiten Seegangs rollen wir zum Gotterbarmen. Erst als der abflauende Wind nach Mitternacht auf S dreht, bessert sich die Lage. Die See glättet sich und unter Vollzeug rauscht die VERA durch eine dann doch noch herrliche Nacht. Im Morgengrauen stehen wir wohlbehalten am Eingang zur »Bahia Anna Pink«. »Bahia Anna Pink«? Genau. Diese ganz grausam riffverseuchte Bucht in der patagonischen Wildnis wurde ebenfalls nach einem Schiff aus Kommodore Anson’s Geschwader benannt. Die ANNA PINK hatte im Sturm und Seegang vor dieser unwirtlichen Küste die Masten verloren. Beinahe unglaublich, das es der Besatzung gelang, mit einem Notrigg diese »Bahia« anzulaufen, alle Felsen und Untiefen zu vermeiden und in einer gut geschützten Bucht Zuflucht zu finden. Man fällte Bäume, stellte neue Masten und schaffte es, noch rechtzeitig den Treffpunkt der Flotte auf den »Juan Fernandez« Inseln zu erreichen. Und wir? Am Vormittag laufen wir unter Motor durch die geschützten Gewässer der »Boca Wickham«, in der eine Herde Buckelwale plantscht. Der romantisch gelegenen Ankerplatz »Caleta Mariúccha« im »Canal Abandonados« ist bald darauf erreicht. Verluste: UKW Antenne im Masttop abgebrochen, Salzwasser in der Auspuffanlage der Heizung, Salzwasser im wasserdichten Schaltschrank der Ankerwinsch, beide Thermoskannen zerschmettert. Auf der Habenseite? Keine 500 Seemeilen mehr bis Valdivia. Das rechtfertigt doch eine große Flasche »Austral«, eine der letzten an Bord.
Herzliche Grüße und alles erdenklich Gute wünschen Euch B und M / SY VERA / »Caleta Mariúccha« / Isla Humos / Chile
1 - Einsames Wrack: MV CAPTAIN LEONIDAS im »Kanal Messier«, mit Puderzucker in den Bergen.

2 - Unerwartete Wetterbesserung im »Kanal Messier«.

3 - B im »Kanal Messier«.

4 - Unter Motor im »Kanal Messier« in 360 Grad. Ein Film von B+M.
5 - Bildnis der Altvorderen in der »Caleta Chaski«, »Kanal Messier«.

6 - Am Ausgang des »Kanal Messier«: »Wager Island« BB voraus. Links »Mount Wager«, rechts »Mount Misery«, der später in »Mount Anson« umbenannt wurde.

7 - Karte »Kanal Messier«, »Wager Island« und »Golfo de Penas«.

»Caleta Yvonne«, 30 Seemeilen nördlich von »Puerto Edén«, Idylle in der Wildnis. Mit dem Anker und drei Landleinen liegen wir hier sicher verzurrt. Es regnet in Strömen, Katzen und Hunde, aber wem sag‘ ich das. Draussen im »Kanal Messier« heult und schäumt der Sturm, 50 Knoten, Stärke zehn. Die Engländer haben ein gutes Wort dafür: »Dreadful«. Doch immerhin: Wir sind wieder auf der Piste, nach einer langen, dem üblen Wetter geschuldeten Woche in »Edén«. Ausser uns lagen noch fünf weitere Boote tagelang dort fest. Besonders an die netten Abende mit Ivar und Floris von der SY LUCIPARA 2 (www.sailorsforsustainability.nl) werden wir uns immer gern erinnern. In derselben Saison in einem so abgelegenen Revier unterwegs zu sein führt zu einer Gemeinschaft, die Ähnlichkeiten mit einem Schuljahrgang hat. Man redet miteinander, tauscht Nachrichten und Gerüchte aus und lernt sich zu schätzen, selbst, wenn man nicht immer so recht zusammenpasst.
Bei Tagesanbruch im »Kanal Messier«: Die Landschaft in dieser Gegend ist natürlich schon grandios, gerade wenn man unterwegs ist und einmal die Sonne herausguckt. Unerwartet romantische Bilder liegen links und rechts am Weg: Puderzucker in den erhabenen Bergen am Kanal, frisch gefallen in der letzten Nacht. Das rostige, aber noch immer imposante Wrack der MV CAPTAIN LEONIDAS, die 1968 mitten im »Kanal Messier« auf einen Felsen lief. Milchig trübes Wasser am Ausgang des »Seno Iceberg«, in dem Herden von Delphinen mit dem unschuldigen Krill spielen. Märchenhaft. Für Morgen und übermorgen verspricht das GFS Flaute aus Süden. Mit einem Zwischenstopp in der »Caleta Chaski« hoffen wir, in zwei ökonomischen Tagen die »Isla Wager« und den Ausgang in den »Golfo de Penas« zu erreichen. Der »Gulf of Misery« gilt als Königsetappe auf dem Weg von hier in die wärmeren Regionen Chiles, die mit der »Isla Grande de Chiloé« beginnen sollen. »Basking and bathing«. Zukunftsmusik. Und bloß keine Fehler machen.
08. April 2019, »Caleta Ideal«, ein gut geschützter Ankerplatz zwischen »Isla Wager« und »Isla Schröder«. Ausser uns sind noch zwei Boote hier, MARGUERITE aus Frankreich und ITHACA aus Südafrika. Wir alle warten auf ein passendes Wetterfenster für den vermaledeiten »Golfo«. Heute Nordwind Stärke 7, strömender Regen. Nichts neues also. Zeit für Literatur. »Isla Wager«: Verfilzte, undurchdringliche Wildnis. Wahrscheinlich hat sich hier sehr wenig verändert in tausenden von Jahren. »Mount Wager« und »Mount Anson« an BB, kaum zu erkennen in den Regenböen. Am 18. September 1740 verließ Kommodore George Anson England mit einem kleinen Geschwader von Kriegsschiffen, umschiffte Kap Hoorn, brannte die Stadt Payta in Peru nieder, kaperte die Manila Galeone, und segelte über die Philippinen, China und das Kap der guten Hoffnung zurück nach England, wo er am 15. Juni 1744 eintraf, den Laderaum seiner HMS CENTURION bis zum Bersten mit Gold gefüllt (siehe George Anson: »A voyage round the world in the years MDCCXL, I, II, III, IV«). Es lief jedoch beileibe nicht alles glatt auf dieser Erfolgsexpedition (u.a. kehrten nur etwa 500 der 1.400 Besatzungsmitglieder nach England zurück). Vor Kap Hoorn geriet das britische Geschwader in schweres Wetter und wurde übel gebeutelt. Für den Fall, das man sich aus den Augen verlöre, hatte Kommodore Anson die »Juan Fernandez« Inseln (oder auch Alexander Selkirk / Robinson Crusoe Inseln, siehe Daniel Defoe), ca. 800 Seemeilen nordwestlich von hier vor der Küste Chiles gelegen, als Treffpunkt vor der Weiterfahrt nach Mittelamerika bestimmt. Ein paar Monate lang wartete man vergeblich auf einige der wertvollsten Schiffe. Unter anderem fehlte die HMS WAGER unter Kapitän Cheap. Die 30 Kanonen Fregatte blieb spurlos verschwunden. Erst als Anson 1744 nach London zurückkehrte, sollte er erfahren, das die HMS WAGER Mitte Mai 1741 in schwerem Sturm vor der Küste Patagoniens auf einem Riff verloren ging, das sich keine fünf Seemeilen nordwestlich von unserem derzeitigen Ankerplatz befindet, auf eben dieser, heute »Wager Island« genannten völlig lebensfeindlichen felsigen Insel, gleich hinter dem »Mount Misery« den man später in »Mount Anson« umbenannte. Die Überlebenden bezogen in ihrer Not ein notdürftiges Winterquartier in Zelten und Hütten. Zunächst besaß man noch einigen Proviant, dazu Wein und Rum, Holz, Waffen und Werkzeug aus dem Wrack. Man trieb Handel mit verschiedenen »Mapuche« Indianerstämmen, doch sehr bald wurden im Dauerschnee- und Graupelsturm die Nahrungsmittel knapp. Kapitän Cheap plante im kommenden Sommer mit den verbliebenen Beibooten nach Norden zu segeln, und dort die spanischen Kriegsgegner um Gnade zu bitten. Ein Teil der Besatzung, angeführt von dem charismatischen Kanonier John Bulkeley, war anderer Meinung. Um der drohenden Zwangsarbeit und dem Tod in den finsteren spanischen Bergwerken in Chile und Peru zu entgehen, wollten sie versuchen, mit einem der Boote durch die Straße des Magellans nach Brasilien zu gelangen, um von dort mit einem portugiesischen Schiff nach Europa zurückzukehren. Kein Wunder, das es zum Streit und zur Trennung kam, die Kapitän Cheap als Meuterei betrachtete. Nach abenteuerlichen Erlebnissen und unsäglichen Strapazen erreichten John Bulkeley und ein paar Getreue London im Januar 1743. Kapitän Cheap und einige überlebende Offiziere benötigten zwei Jahre länger. Das darauf folgende Kriegsgericht der Admiralität führte zum Freispruch für Bulkeley und seine Leute. Wer nachlesen möchte, findet alles wissenswerte in diesem kleinen Buch: »Byron & Bulkeley / The Wreck of the WAGER / The folio society 1983«. Es enthält zwei fein geschriebene Berichte: John Bulkeley - »A voyage to the south seas in the year 1740-1« und John Byron - »The narrative of the honourable John Byron«. Byron? Ja genau. John Byron, der spätere Lord Byron und Großvater des berühmten Dichters George Gordon Byron (oder auch Lord Byron). John Byron hatte als 16 jähriger Offiziersanwärter (Midshipman) auf der HMS WAGER angeheuert. Natürlich blieb er, wie alle überlebenden Offiziere, treu an der Seite von Kapitän Cheap. So ergeben sich hier zwei gegensätzliche, einander ergänzende Betrachtungen derselben Ereignisse, was sehr spannend zu vergleichen ist, natürlich am besten am Kaminfeuer in einem bequemen Sessel und einem Glas bernsteinfarbenem »Shackleton« zur Hand.
Einen Tag später ist es so weit. Nach einer Nacht mit pladderndem Starkregen klart es auf und der Wind dreht über West auf Südwest. Nach ITHACA, MARGUERITE und EASTERN STREAM laufen wir im Schutz von Wager Island in einen herrlichen Morgen. Das GFS verspricht SW um die 20 Knoten, komfortables Segeln also, »Beam Reaching« unter blauem Himmel und das über den »Gulf of Misery«… zu schön um wahr zu sein. Natürlich frischt der Wind bald auf, 30, dann 40 Knoten aus WSW, Stärke sieben bis acht. Bald haben wir nur noch das durchgereffte Groß und den kleinen Kutter stehen, mehr als genug für diese Bedingungen. Bei Erreichen der offenen See gesellt sich der passende Seegang zum Wind. Leider liegt der »Golfo de Penas« zur Gänze auf dem südamerikanischen Kontinentalschelf. Bei um die 100 Metern Wassertiefe erzeugen westliche Winde einen infernalischen Seegang, der wohl eine der Ursachen für den Verlust der HMS WAGER sein dürfte. So wie die Dinge stehen, werden auch wir bald übel gebeutelt und gut geduscht. Brecher waschen über das Deck und füllen mehrfach das Cockpit, während die VERA an den vor uns ausgelaufenen, schwerfälligeren Fahrtenyachten vorbei fliegt wie der Habicht an den Hühnern. M nimmt draussen zwei Vollbäder, leider wieder ohne Trockenanzug. Die Engländer haben ein gutes Wort dafür: »Miserable«. Da nützt auch der blaue Himmel wenig.
Bei Sonnenuntergang passieren wir »Capo Raper« (guter Name, gell?) und können nach NE abfallen. Der SW kommt jetzt also genau von achtern. Komfortabler ist das kaum. Wegen des vermaledeiten Seegangs rollen wir zum Gotterbarmen. Erst als der abflauende Wind nach Mitternacht auf S dreht, bessert sich die Lage. Die See glättet sich und unter Vollzeug rauscht die VERA durch eine dann doch noch herrliche Nacht. Im Morgengrauen stehen wir wohlbehalten am Eingang zur »Bahia Anna Pink«. »Bahia Anna Pink«? Genau. Diese ganz grausam riffverseuchte Bucht in der patagonischen Wildnis wurde ebenfalls nach einem Schiff aus Kommodore Anson’s Geschwader benannt. Die ANNA PINK hatte im Sturm und Seegang vor dieser unwirtlichen Küste die Masten verloren. Beinahe unglaublich, das es der Besatzung gelang, mit einem Notrigg diese »Bahia« anzulaufen, alle Felsen und Untiefen zu vermeiden und in einer gut geschützten Bucht Zuflucht zu finden. Man fällte Bäume, stellte neue Masten und schaffte es, noch rechtzeitig den Treffpunkt der Flotte auf den »Juan Fernandez« Inseln zu erreichen. Und wir? Am Vormittag laufen wir unter Motor durch die geschützten Gewässer der »Boca Wickham«, in der eine Herde Buckelwale plantscht. Der romantisch gelegenen Ankerplatz »Caleta Mariúccha« im »Canal Abandonados« ist bald darauf erreicht. Verluste: UKW Antenne im Masttop abgebrochen, Salzwasser in der Auspuffanlage der Heizung, Salzwasser im wasserdichten Schaltschrank der Ankerwinsch, beide Thermoskannen zerschmettert. Auf der Habenseite? Keine 500 Seemeilen mehr bis Valdivia. Das rechtfertigt doch eine große Flasche »Austral«, eine der letzten an Bord.
Herzliche Grüße und alles erdenklich Gute wünschen Euch B und M / SY VERA / »Caleta Mariúccha« / Isla Humos / Chile
1 - Einsames Wrack: MV CAPTAIN LEONIDAS im »Kanal Messier«, mit Puderzucker in den Bergen.

2 - Unerwartete Wetterbesserung im »Kanal Messier«.

3 - B im »Kanal Messier«.

4 - Unter Motor im »Kanal Messier« in 360 Grad. Ein Film von B+M.
5 - Bildnis der Altvorderen in der »Caleta Chaski«, »Kanal Messier«.

6 - Am Ausgang des »Kanal Messier«: »Wager Island« BB voraus. Links »Mount Wager«, rechts »Mount Misery«, der später in »Mount Anson« umbenannt wurde.

7 - Karte »Kanal Messier«, »Wager Island« und »Golfo de Penas«.

002 - NACH PUERTO EDÉN
28/03/19 00:00
Hallo Ihr Lieben!
»Caleta Moonlight Shadow«, Idylle in der Wildnis, Dauerregen, seit Tagen, nicht viel Wind, entgegen der Vorhersage. Doch wer weiss, was draussen im »Kanal Sarmiento« los ist? Was wir brauchen ist ein Wetterfenster, das uns die Weiterreise nach »Puerto Edén« ermöglicht. Noch 170 Seemeilen, so nah, und doch so fern. Lesen, schlafen, kochen, Gitarre spielen, schreiben, schlafen, lesen, kochen und immer mal wieder versuchen, den Magen zu entspannen. Alles in allem auch nicht schlecht, eine Art »Retreat«, eine Meditation auf Zeit. 995 Millibar, nochmals 2 Hectopascal abwärts. Draussen schifft es so heftig, das man keinen Hund vor die Tür… Aber wem sag‘ ich das. Egal. Solange der Druck fällt, bleiben wir hier. Zeit zum sinnieren: Sind wir inzwischen irgendwie Nomaden? Bruce Chatwin, der begnadete und leider im Jahre 1989 viel zu früh verstorbene Reiseschriftsteller schrieb 1977 seinen Bestseller »In Patagonia«. In einigen Interviews danach bezeichnete er sich selbst als Nomaden. Das macht in seinem Fall irgendwie Sinn. Statt nach neuen Weidegründen für seine Herden, suchte er in der weiten Welt nach Inspiration.
Der Morgen graut. Das Barometer steigt einen Tick. In strömendem Regen gehen wir Anker auf und segeln hoch am Wind bis zur »Caleta Bueno«, verkehrsgünstig am »Kanal Sarmiento« gelegen. Es schifft, Katzen, Mäuse und Hunde. Manchmal nieselt es. Sprühregen ist auch im Repertoire. Alles ist triefnass, Ölzeug, Mützen und Handschuhe. Die Angelsachsen haben ein gutes Wort dafür: »Miserable.« Der nächste Tag bringt ähnliche Bedingungen: Leichtwind und Dauerregen. B will in die »Caleta Amalia«. Ein Umweg von fünfundzwanzig Seemeilen. Man soll von dort aber einen guten Blick auf den Amaliagletscher und das »Campo de Hielo Sur«, das patagonische Inlandeis haben, das abgesehen von den Polkappen immerhin das zweitgrößte der Welt ist, gleich hinter Grönland… Na denn.
»Caleta Amalia«: Bordroutine, lesen, schreiben, kochen, essen, schlafen, lesen… Bill Tilman, der berühmte englische Extrembergsteiger und Hochseesegler musste 1956 seinen hölzernen Lotsenkutter MISCHIEF noch in der Nachbarbucht, der »Caleta Tilman« verankern, da ihm das Eis des Amaliagletschers das weitere Vorwärtskommen unmöglich machte. Wir finden zunächst kein Eis im »Estero Amalia«, was schade ist, wegen der abendlichen Drinks… Egal. Der Regen macht gelegentlich eine Pause und gibt den Blick auf den großen Gletscher frei. Eine monumentale Landschaft, keine Frage. Wenn jetzt nur die Wolken von blutgierigen Gnitzen nicht wären, die irgendwie ganz genau wissen, wie man ein Säugetier piesackt. Die Angelsachsen haben ein gutes Wort dafür: »Dreadful«. Unsere Gedanken schweifen nun desöfteren in die Südsee: Sonne auf nackter, braungebrannter Haut, zur Abkühlung ums Schiff schwimmen und sich an der Ankerkette zum bunten Riff hinunterziehen. Laue Tropennächte unter Millionen Sternen, bei warm fächelndem Wind, der in den Kokospalmen am Strand raschelt. Petroleumlampe im Cockpit, ein Glas gut gekühlter Weißwein...
Eine e-mail von der JONATHAN trifft ein. Unsere Freunde Caroline und Mark haben aus der Antarktis kommend die Südorkneyinseln, Südgeorgien und Tristan da Cunha angelaufen, und rauschen nun mit Backstagsbrise auf Kapstadt zu. Unter sengender Sonne und das erste mal barfuß, seit vielen Jahren. Unser Neid segelt mit ihnen. Traurig sind dagegen die Nachrichten von der unzerstörbaren 20 Meter Expeditionsyacht PARADISE. In Enterprise Harbor in der Antarktis haben wir einen denkwürdigen Grillabend mit den abenteuerlustigen Franzosen verbracht (siehe VERA Newsletter Nr. 038). Letzte Woche ist die PARADISE auf dem Weg von den Falklandinseln nach Uruguay in schwerem Wetter gekentert. Eigner und Skipper Arnaud und die erfahrene Co Skipperin Sophie von der berühmten KOTIK gingen dabei über Bord und konnten von der an Bord verbliebenen sechsköpfigen Crew nicht mehr geborgen werden. Stoff zum Nachdenken, und nicht zuletzt auch über unsere eigenen Sicherheitsvorkehrungen.
Als wir eines Morgens die »Caleta Amalia« verlassen, um ein paar Meilen in Richtung »Edén« gutzumachen erwartet uns unerwartet dichtes Treibeis im »Estero Amalia«. Wir schnappen uns gleich einen ordentlichen Brocken für den Kühlschrank. Dabei werden wir von einer Bande draufgängerischer Delphine belästigt, die auch etwas davon wollen. Immer wieder schnuffeln sie erwartungsvoll an unserer blauen Ikea Tüte, mit der wir das Eis auflesen. Danach folgen sie uns stundenlang durch dichtes Treibeis, das sie so viel geschickter umkurven, als wir. Über die »Caleta Poza de las Nutrias«, oder auch »Otter Pool«, den tiefen Fjord »Fondeadero Brumas Patagonia« tuckern wir in einigen friedlichen Tagen meist unter Motor bis zur »Caleta Refugio«, einer wildromantischen Bucht an der rauen Küste der »Isla Wellington«. Märchenhafte Plätze allesamt, umstanden von hohen Felswänden, umwabert von Nebelschwaden und dem Rauschen von Wasserfällen. Meist regnet es in Strömen, was ganz ok ist, schon wegen der neunmalvermaledeiten Gnitzen. Ein alter song von Nick Cave geht mir (M) tagelang nicht aus dem Kopf: »…and the rain pissed down upon me and washed me all away.« Cave war damals um die 30, und auf dem Höhepunkt seines Schaffens, so wie Neil Young nur ein paar Jahre vorher: »It’s better to burn out, than to fade away. My, my, hey, hey.« Ist es so, das jenseits der 30 ein langsames Dämmern beginnt, bis das Licht irgendwann aus ist? Und: »Das Licht das doppelt so hell brennt, brennt eben nur halb so lange,« ein altes Filmzitat aus »Blade Runner«… Haben wir etwa nicht hell genug gebrannt?
Irgendwann beginnen die Tage einander zu gleichen. Morgentee, dann Merinoschichten, Faserpelz, Ölzeug, Stiefel und Handschuhe aufrödeln, Motor an und hinaus in die tropfnassen Kanäle, die archaisch daliegen, graue und grüne Felswände mit weißen Wasserfallbärten unter tiefhängenden Regenwolken oder im Morgennebel. Zur Orientierung konsultieren wir im Zweifelsfall »The holy Bible«. Hin und wieder treffen wir auf eine andere Yacht, aber unsere Wege trennen sich meist bald wieder. Jeder von uns hat hier einen anderen, einen eigenen Rhythmus. Manch einer macht seine Meilen vormittags, ein anderer kreuzt in kurzen Schlägen gegenan, bis die Arme brennen (und die Segel verschlissen sind). Wieder anderen stinkt die Kälte, der Regen und die Gnitzen so sehr, das sie so viele Meilen in den Tag packt wie nur irgend möglich. Wir liegen da, wie wir glauben, irgendwo im kraftsparenden goldenen Schnitt. Eines Morgens verlassen wir bei strahlendem Sonnenschein die gemütliche »Caleta Apalá«, wo eine große, tobende Horde von verspielten Delphine wohnt, um die letzten Meilen nach »Puerto Edén« in Angriff zu nehmen.
»Puerto Edén«, ein kleiner Aussenposten der Zivilisation, ungefähr auf halber Strecke zwischen »Puerto Williams« und »Valdivia« gelegen, ein wichtiges Zwischenziel in dieser feuchten Wildnis. Wikipedia weiß dazu folgendes: »Villa Puerto Edén has an extremely wet subpolar oceanic climate, and is widely reputed to be the place in the world with the highest frequency of rainfall, though according to Guinness World Records the highest frequency of rain in a year occurred at Bahia Felix (oder auch »Caleta Wodsworth« genannt, sicher einer der schönsten Ankerplätze der Welt), a little further south, with only eighteen rainless days in the whole of 1916.« Na denn.
Als gegen Mittag unser Anker vor dem 170 Seelen Dorf fällt, ist der Himmel stahlblau, die Luft warm und die Bucht spiegelglatt. An Land eine Gruppe von hölzernen Häusern, Stegen und Fischerbooten, gelb, rot, weiß oder irgendetwas dazwischen. Es riecht nach Grillfeuern, Räucherfisch und blühenden Fuchsien. Aus einem Ghettoblaster treiben südamerikanische Balladen über das Wasser. Es ist nett hier. Die Dänen haben ein gutes Wort dafür: »Hyggelig«. Mit dem Dinghy besuchen wir die schon seit ein paar Tagen hier liegenden Holländer von der EASTERN STREAM und ziehen rasch die nötigen Erkundigungen ein. Zwei »Supermärkte« in zwei roten Häuschen führen nichts wesentliches. Gemüse und Obst nur am Sonntag Abend, wenn die Fähre aus »Puerto Montt« kommt, einklarieren dort drüben beim Armada Anleger, nix Internet. Landgang: Ein guter Holzsteg verbindet alle Häuser im Dorf, was schlammmäßig unbedingt Sinn macht. Auf dem Steg findet sich einiges pelziges Getier, zumeist sehr entspannte »Canidae« oder »Felidae«. Man scheint sich zu kennen und faulenzt zusammen in der Sonne. Wir beschließen ein wenig zu bleiben. In den nächsten Tagen soll es heftig aus Nord wehen. Und: Am Sonntag kommt die Fähre, hoffentlich mit frischem Obst. Tanken brauchen wir nicht. Der Dieselvorrat ist dank unserer bisher verhaltenen Fahrweise noch zur Hälfte vorhanden, und reicht von hier aus sicher bis in’s gelobte Land: »Isla Chiloé«, dort, wo wohlhabende Chilenen ihren Sommerurlaub verbringen. Unsere schwedischen Freunde von der CLARY schrieben in der letzten Woche von dort und vom ausgiebigen »basking and bathing«. Das klingt verführerisch. Leider liegen zwischen hier und »Chiloé« noch über 400 Seemeilen durch nasskalte Wildnis, und dazu der stürmische »Golfo de Penas«, der schon so vielen Seefahrern zum Verhängnis wurde. Wir werden es also ruhig angehen lassen.
Herzliche Grüße und alles erdenklich Gute wünschen Euch B und M / SY VERA / Puerto Edén / Isla Wellington / Chile
1 - Socken trocknen in der »Caleta Moonlight Shadow«.

2 - Unser Blick aus der »Caleta Amalia«.

3 - Vor Sonnenaufgang in der »Caleta Amalia«.
4 - Treibeis und Delphine im »Estero Amalia«.

5 - Treibeis aus dem »Estero Amalia«. Ein Film von B+M.
6 - Bei Tagesanbruch in Patagonien.

7 - Delphine am Bug!

8 - Und hier der dazugehörige Delphinfilm. Ein Film von B+M.
9 - VERA in »Puerto Edén«.

10 - Pelztier in »Puerto Edén«: Stinkefuß und Beinumschmeichler. Ein Film von B+M.
11 - Wasserfälle im »Fondeadero Brumas Patagonia«. Ein Film von B+M.
11 - Von der Straße des Magellan nach Puerto Edén.

»Caleta Moonlight Shadow«, Idylle in der Wildnis, Dauerregen, seit Tagen, nicht viel Wind, entgegen der Vorhersage. Doch wer weiss, was draussen im »Kanal Sarmiento« los ist? Was wir brauchen ist ein Wetterfenster, das uns die Weiterreise nach »Puerto Edén« ermöglicht. Noch 170 Seemeilen, so nah, und doch so fern. Lesen, schlafen, kochen, Gitarre spielen, schreiben, schlafen, lesen, kochen und immer mal wieder versuchen, den Magen zu entspannen. Alles in allem auch nicht schlecht, eine Art »Retreat«, eine Meditation auf Zeit. 995 Millibar, nochmals 2 Hectopascal abwärts. Draussen schifft es so heftig, das man keinen Hund vor die Tür… Aber wem sag‘ ich das. Egal. Solange der Druck fällt, bleiben wir hier. Zeit zum sinnieren: Sind wir inzwischen irgendwie Nomaden? Bruce Chatwin, der begnadete und leider im Jahre 1989 viel zu früh verstorbene Reiseschriftsteller schrieb 1977 seinen Bestseller »In Patagonia«. In einigen Interviews danach bezeichnete er sich selbst als Nomaden. Das macht in seinem Fall irgendwie Sinn. Statt nach neuen Weidegründen für seine Herden, suchte er in der weiten Welt nach Inspiration.
Der Morgen graut. Das Barometer steigt einen Tick. In strömendem Regen gehen wir Anker auf und segeln hoch am Wind bis zur »Caleta Bueno«, verkehrsgünstig am »Kanal Sarmiento« gelegen. Es schifft, Katzen, Mäuse und Hunde. Manchmal nieselt es. Sprühregen ist auch im Repertoire. Alles ist triefnass, Ölzeug, Mützen und Handschuhe. Die Angelsachsen haben ein gutes Wort dafür: »Miserable.« Der nächste Tag bringt ähnliche Bedingungen: Leichtwind und Dauerregen. B will in die »Caleta Amalia«. Ein Umweg von fünfundzwanzig Seemeilen. Man soll von dort aber einen guten Blick auf den Amaliagletscher und das »Campo de Hielo Sur«, das patagonische Inlandeis haben, das abgesehen von den Polkappen immerhin das zweitgrößte der Welt ist, gleich hinter Grönland… Na denn.
»Caleta Amalia«: Bordroutine, lesen, schreiben, kochen, essen, schlafen, lesen… Bill Tilman, der berühmte englische Extrembergsteiger und Hochseesegler musste 1956 seinen hölzernen Lotsenkutter MISCHIEF noch in der Nachbarbucht, der »Caleta Tilman« verankern, da ihm das Eis des Amaliagletschers das weitere Vorwärtskommen unmöglich machte. Wir finden zunächst kein Eis im »Estero Amalia«, was schade ist, wegen der abendlichen Drinks… Egal. Der Regen macht gelegentlich eine Pause und gibt den Blick auf den großen Gletscher frei. Eine monumentale Landschaft, keine Frage. Wenn jetzt nur die Wolken von blutgierigen Gnitzen nicht wären, die irgendwie ganz genau wissen, wie man ein Säugetier piesackt. Die Angelsachsen haben ein gutes Wort dafür: »Dreadful«. Unsere Gedanken schweifen nun desöfteren in die Südsee: Sonne auf nackter, braungebrannter Haut, zur Abkühlung ums Schiff schwimmen und sich an der Ankerkette zum bunten Riff hinunterziehen. Laue Tropennächte unter Millionen Sternen, bei warm fächelndem Wind, der in den Kokospalmen am Strand raschelt. Petroleumlampe im Cockpit, ein Glas gut gekühlter Weißwein...
Eine e-mail von der JONATHAN trifft ein. Unsere Freunde Caroline und Mark haben aus der Antarktis kommend die Südorkneyinseln, Südgeorgien und Tristan da Cunha angelaufen, und rauschen nun mit Backstagsbrise auf Kapstadt zu. Unter sengender Sonne und das erste mal barfuß, seit vielen Jahren. Unser Neid segelt mit ihnen. Traurig sind dagegen die Nachrichten von der unzerstörbaren 20 Meter Expeditionsyacht PARADISE. In Enterprise Harbor in der Antarktis haben wir einen denkwürdigen Grillabend mit den abenteuerlustigen Franzosen verbracht (siehe VERA Newsletter Nr. 038). Letzte Woche ist die PARADISE auf dem Weg von den Falklandinseln nach Uruguay in schwerem Wetter gekentert. Eigner und Skipper Arnaud und die erfahrene Co Skipperin Sophie von der berühmten KOTIK gingen dabei über Bord und konnten von der an Bord verbliebenen sechsköpfigen Crew nicht mehr geborgen werden. Stoff zum Nachdenken, und nicht zuletzt auch über unsere eigenen Sicherheitsvorkehrungen.
Als wir eines Morgens die »Caleta Amalia« verlassen, um ein paar Meilen in Richtung »Edén« gutzumachen erwartet uns unerwartet dichtes Treibeis im »Estero Amalia«. Wir schnappen uns gleich einen ordentlichen Brocken für den Kühlschrank. Dabei werden wir von einer Bande draufgängerischer Delphine belästigt, die auch etwas davon wollen. Immer wieder schnuffeln sie erwartungsvoll an unserer blauen Ikea Tüte, mit der wir das Eis auflesen. Danach folgen sie uns stundenlang durch dichtes Treibeis, das sie so viel geschickter umkurven, als wir. Über die »Caleta Poza de las Nutrias«, oder auch »Otter Pool«, den tiefen Fjord »Fondeadero Brumas Patagonia« tuckern wir in einigen friedlichen Tagen meist unter Motor bis zur »Caleta Refugio«, einer wildromantischen Bucht an der rauen Küste der »Isla Wellington«. Märchenhafte Plätze allesamt, umstanden von hohen Felswänden, umwabert von Nebelschwaden und dem Rauschen von Wasserfällen. Meist regnet es in Strömen, was ganz ok ist, schon wegen der neunmalvermaledeiten Gnitzen. Ein alter song von Nick Cave geht mir (M) tagelang nicht aus dem Kopf: »…and the rain pissed down upon me and washed me all away.« Cave war damals um die 30, und auf dem Höhepunkt seines Schaffens, so wie Neil Young nur ein paar Jahre vorher: »It’s better to burn out, than to fade away. My, my, hey, hey.« Ist es so, das jenseits der 30 ein langsames Dämmern beginnt, bis das Licht irgendwann aus ist? Und: »Das Licht das doppelt so hell brennt, brennt eben nur halb so lange,« ein altes Filmzitat aus »Blade Runner«… Haben wir etwa nicht hell genug gebrannt?
Irgendwann beginnen die Tage einander zu gleichen. Morgentee, dann Merinoschichten, Faserpelz, Ölzeug, Stiefel und Handschuhe aufrödeln, Motor an und hinaus in die tropfnassen Kanäle, die archaisch daliegen, graue und grüne Felswände mit weißen Wasserfallbärten unter tiefhängenden Regenwolken oder im Morgennebel. Zur Orientierung konsultieren wir im Zweifelsfall »The holy Bible«. Hin und wieder treffen wir auf eine andere Yacht, aber unsere Wege trennen sich meist bald wieder. Jeder von uns hat hier einen anderen, einen eigenen Rhythmus. Manch einer macht seine Meilen vormittags, ein anderer kreuzt in kurzen Schlägen gegenan, bis die Arme brennen (und die Segel verschlissen sind). Wieder anderen stinkt die Kälte, der Regen und die Gnitzen so sehr, das sie so viele Meilen in den Tag packt wie nur irgend möglich. Wir liegen da, wie wir glauben, irgendwo im kraftsparenden goldenen Schnitt. Eines Morgens verlassen wir bei strahlendem Sonnenschein die gemütliche »Caleta Apalá«, wo eine große, tobende Horde von verspielten Delphine wohnt, um die letzten Meilen nach »Puerto Edén« in Angriff zu nehmen.
»Puerto Edén«, ein kleiner Aussenposten der Zivilisation, ungefähr auf halber Strecke zwischen »Puerto Williams« und »Valdivia« gelegen, ein wichtiges Zwischenziel in dieser feuchten Wildnis. Wikipedia weiß dazu folgendes: »Villa Puerto Edén has an extremely wet subpolar oceanic climate, and is widely reputed to be the place in the world with the highest frequency of rainfall, though according to Guinness World Records the highest frequency of rain in a year occurred at Bahia Felix (oder auch »Caleta Wodsworth« genannt, sicher einer der schönsten Ankerplätze der Welt), a little further south, with only eighteen rainless days in the whole of 1916.« Na denn.
Als gegen Mittag unser Anker vor dem 170 Seelen Dorf fällt, ist der Himmel stahlblau, die Luft warm und die Bucht spiegelglatt. An Land eine Gruppe von hölzernen Häusern, Stegen und Fischerbooten, gelb, rot, weiß oder irgendetwas dazwischen. Es riecht nach Grillfeuern, Räucherfisch und blühenden Fuchsien. Aus einem Ghettoblaster treiben südamerikanische Balladen über das Wasser. Es ist nett hier. Die Dänen haben ein gutes Wort dafür: »Hyggelig«. Mit dem Dinghy besuchen wir die schon seit ein paar Tagen hier liegenden Holländer von der EASTERN STREAM und ziehen rasch die nötigen Erkundigungen ein. Zwei »Supermärkte« in zwei roten Häuschen führen nichts wesentliches. Gemüse und Obst nur am Sonntag Abend, wenn die Fähre aus »Puerto Montt« kommt, einklarieren dort drüben beim Armada Anleger, nix Internet. Landgang: Ein guter Holzsteg verbindet alle Häuser im Dorf, was schlammmäßig unbedingt Sinn macht. Auf dem Steg findet sich einiges pelziges Getier, zumeist sehr entspannte »Canidae« oder »Felidae«. Man scheint sich zu kennen und faulenzt zusammen in der Sonne. Wir beschließen ein wenig zu bleiben. In den nächsten Tagen soll es heftig aus Nord wehen. Und: Am Sonntag kommt die Fähre, hoffentlich mit frischem Obst. Tanken brauchen wir nicht. Der Dieselvorrat ist dank unserer bisher verhaltenen Fahrweise noch zur Hälfte vorhanden, und reicht von hier aus sicher bis in’s gelobte Land: »Isla Chiloé«, dort, wo wohlhabende Chilenen ihren Sommerurlaub verbringen. Unsere schwedischen Freunde von der CLARY schrieben in der letzten Woche von dort und vom ausgiebigen »basking and bathing«. Das klingt verführerisch. Leider liegen zwischen hier und »Chiloé« noch über 400 Seemeilen durch nasskalte Wildnis, und dazu der stürmische »Golfo de Penas«, der schon so vielen Seefahrern zum Verhängnis wurde. Wir werden es also ruhig angehen lassen.
Herzliche Grüße und alles erdenklich Gute wünschen Euch B und M / SY VERA / Puerto Edén / Isla Wellington / Chile
1 - Socken trocknen in der »Caleta Moonlight Shadow«.

2 - Unser Blick aus der »Caleta Amalia«.

3 - Vor Sonnenaufgang in der »Caleta Amalia«.

4 - Treibeis und Delphine im »Estero Amalia«.

5 - Treibeis aus dem »Estero Amalia«. Ein Film von B+M.
6 - Bei Tagesanbruch in Patagonien.

7 - Delphine am Bug!

8 - Und hier der dazugehörige Delphinfilm. Ein Film von B+M.
9 - VERA in »Puerto Edén«.

10 - Pelztier in »Puerto Edén«: Stinkefuß und Beinumschmeichler. Ein Film von B+M.
11 - Wasserfälle im »Fondeadero Brumas Patagonia«. Ein Film von B+M.
11 - Von der Straße des Magellan nach Puerto Edén.

001 - IN DIE STRASSE DES MAGELLAN
15/03/19 00:00
Hallo Ihr Lieben!
Nach den vorangegangenen, arbeitsintensiven Wochen der Vorbereitung auf die »Patagonian Channels« war unsere Abreise aus Puerto Williams dringend nötig und irgendwie auch überfällig. Ein gutes Jahr lang war die »Südlichste Ansiedlung der Welt« unser Heimathafen und »Base Camp« für den im Kielwasser der VERA liegenden Törn in die Antarktis. Nun reicht es. Ein Stapel Pizza noch mit den Freunden von der PELAGIC AUSTRALIS bei »Isabelle«, dann der Abschied. Traurig, wie so oft im Seglerleben. Dagegen helfen nur neue Ufer. Ein Wetterfenster tut sich auf: Zwei bis drei Tage Flaute aus Osten im berüchtigten »Beagle Kanal«, sehr selten, egal zu welcher Jahreszeit. Am Vorabend vor dem Auslaufen besorgen wir bei der Armada ein »Zarpe«, eine Genehmigung zur Weiterreise nach »Puerto Edén«. Auf halber Strecke nach Valdivia, mitten in der Patagonischen Wildnis gelegen, bietet dieser kleine Außenposten eine der ganz wenigen Möglichkeiten Diesel zu bunkern. Wir hoffen, die 700 Seemeilen gegen Sturm und Strom mit unseren vergleichsweise begrenzten Dieselvorräten zu schaffen. Der Morgen graut, kalt und nass: Landstromkabel und Wasserschlauch aufschießen, Motor an, ein Spinnennetz von Leinen loswerfen und klarieren, Rückwärtsgang einlegen, winken, Kelpfelder vermeiden, Fender einsammeln. Draussen Flaute, wie zugesagt, dazu Regen und schlechte Sicht. Achteraus verschwindet Puerto Williams im Niesel und Dunst. Es fühlt sich an wie ein Abschied auf immer. Zu verlockend der Gedanke an die Südsee…
Drei lange Tage lang motoren wir, durch einen verhangenen »Beagle Kanal« und endlosen Regen. Ein Segelrevier im eigentlichen Sinne ist diese Gegend nicht. Eine Nacht verbringen wir in der vertrauten »Caleta Olla«, dann geht es weiter gen Westen, vorbei an den mächtigen Gletschern am Wegesrand, die wir dieses mal leichten Herzens passieren. Im vergangenen Jahr waren wir hier auskömmlich unterwegs. Eine weitere nasse Nacht: Zuflucht in der wilden »Caleta Ancha« auf der «Isla Burnt«. Der Überlieferung nach entführte Kapitän Fitzroy auf dieser Insel einst ein kleines Yámana Mädchen und brachte sie später nach England. Mutmaßlich hatten sich die Eltern ein Beiboot der HMS BEAGLE unter die Nägel gerissen. Heute lebt dort kein Mensch mehr, nur Moose und Flechten und Pinguine vom Stamme »Spheniscus magellanicus«. Die dicht gedrängt beieinander stehenden Gruppen von filzigen Bäumen wissen, woher der Wind weht. Buckelwale plantschen im »Canal Ballenero«, dazu muntere Seebären, »Arctocephalinae«, Ohrenrobben also. Albatrosse gibt es auch. Sie sind bei Flaute beinahe flugunfähig. Rückt ihnen die VERA auf die Federn, sehen wir spektakuläre Startversuche mit höchstem Einsatz. Gelegentlich lässt sich die Sonne blicken und die Sicht bessert sich: An Backbord die Islas »Londonderry« und »Stewart«, von Fitzroy und seiner Crew erstmals vermessen und benannt. An Steuerbord die Bergketten der Darwin Kordilleren, schneebedeckte Gipfel bis über 2000 Meter hoch. Lange haben wir von diesem Anblick geträumt. Heute gehört er uns.
03. März 2019, »Caleta Brecknock«, gute 160 Seemeilen westnordwestlich von Puerto Williams gelegen. Wir liegen gut, mit vielen Landleinen längsseits an der türkisen Oyster Lightwave PAZZO von Willy und Cindy aus Seattle, die wir hier unerwartet aufgestöbert haben. Soweit haben wir es gut getroffen. Die Flaute hielt bis vor die Haustür. Unser kleiner Einschnitt in dieser fast kreisrunden Bucht ist sicher einer der schönsten Ankerplätze der Welt. Uns umschließt eine märchenhaft felsige Landschaft, die zur Erkundung einlädt, da man ausnahmsweise einmal nicht bis zur Hüfte im Modder versinkt, sondern nur bis zum Rand der Gummistiefel. Zwei Seen oberhalb der Bucht lassen sich erwandern, in ein paar Stunden auf und ab, über Bäche und Moose, über Stock und Stein und rundgeschliffene Granitfelsen, Aug’ in Aug’ mit Feen und Trollen. Danach schmeckt B’s Kaiserschmarren doppelt so gut und auch der Mittagsschlaf fühlt sich wohlverdient an. Dinner an Bord der VERA mit Willy und Cindy, Drinks mit Gletschereis vom Italia Gletscher am »Beagle Kanal«. Gute Gespräche. Alles bestens.
Ein paar Tage später, vor Anker in der »Caleta Mussels«. Es heult ums Haus, 40 Knoten aus Westen, Regenböen, das übliche in dieser Gegend. Wir haben die »Estrecho de Magallanes«, die Magellanstraße erreicht, an einem guten, langen Tag mit schwachen südwestlichen Winden, durch den »Canal Barbara« mit seinen unberechenbaren Eddies und starken Tidenströmen. PAZZO hat sich mit Landleinen in eine kleine Nische in der Nähe verholt, die vollkommen im Windschatten liegt. Gute Idee. Andererseits erzeugen unsere beiden kleinen Windgeneratoren hier draussen ausreichend Strom für unsere winzige Insel der Zivilisation.
Der Portugiese Magellan war nicht der erste Mensch in dieser feuchten und windigen Wildnis. Abgesehen von der indigenen Besiedlung durch die Selk'nam und die Yaghan, gab es in Europa bereits früher Gerüchte über eine schiffbare Meerenge zwischen Atlantik und Pazifik. António Galvão schrieb im Jahre 1563 über eine alte Karte, und eine obskure Passage tief im Süden der neuen Welt, die dort als »Draco Cola«, der Drachenschwanz eingezeichnet sei, lange vor der Reise des Magellan: »A map which had been found in the Cartorio of Alcobaça, which had been made more than 120 years before.«
Dennoch: »Estrecho de Magallanes«, was für ein Name! Fernão de Magalhães, Thomas Cavendish, Louis Antoine de Bougainville, Antonio de Córdova und Joshua Slocum erlebten in diesen Gewässern ihre Abenteuer. Wir segeln, äh… motoren, im Kielwasser der HMS BEAGLE und Charles Darwins. Wie unendlich mühsam muss es gewesen sein, einen rahgetakelten Großsegler in diesen Gewässern voranzubringen, gegen Wind und Strom! Magalhães und seine Männer schafften es Ende 1520 vom Atlantik kommend in nur sechs Wochen den Ausgang zu einem ihnen unbekannten Ozean zu erreichen, den der Kapitän »Mar Pacifico« nannte, weil er so friedlich vor ihm lag. Ob sie ihre schweren und unhandlichen Galeonen an guten Tagen mit den Beibooten schleppten, oder bei Wind irgendwie mit ihren beuteligen Leinwandsacksegeln aufkreuzten, wissen wir nicht. Bloß gut, das wir den uralten, grünen und sehr zuverlässigen Herrn VOLVO auf unserer Seite haben. 62 Pferdestärken, die einem das Leben sehr erleichtern, wenn es darauf ankommt. Gut auch, das wir über IRIDIUM jederzeit Zugriff auf das recht verlässliche NOAA Wettermodell GFS haben. Heute brauchen wir nicht raus und morgen auch nicht. Westnordwest Stärke acht, Schauerböen, Dauerregen, Kälte. Dinner an Bord der PAZZO. Lecker.
12. März: Es ist es soweit. Ostwind, wie vom GFS versprochen, unglaublich selten in dieser Gegend. PAZZO zieht Groß und Spinnacker und fährt lässig an uns vorbei. Unsere kleine Yankee Genua tut es aber auch. Am Abend erreichen wir die »Caleta Wodsworth« im Ausgang der Magellanstraße, einen Ort der so verwunschen wirkt, das es nicht zu beschreiben ist. Ein großer Wasserfall hängt in den Granitwänden wie ein weißer Bart und rauscht uns nach dem Dinner in den Schlaf. Dies ist mit Sicherheit einer der schönsten und spektakulärsten Ankerplätze der Welt, spektakulärer noch als »Caleta Brecknock«. Wenn wir doch nur bleiben könnten… Doch der Respekt vor dem zornigen Westwind lässt uns keine Wahl. Noch vor Sonnenaufgang gehen wir Anker auf und segeln weiter, diesmal nach Norden, über die breite Mündung der Straße des Magellan. Im berühmt berüchtigten, zumeist unpassierbaren »Canal Smyth«, in dem es eigentlich immer von vorne hämmert, regnet und gegenan strömt, genießen wir in der Folge einen fantastischen Tag mit absoluter Flaue, sengender Sonne und unglaublicher Fernsicht auf die Eisriesen der Kordilleren. Celebdil, Fanuidhol, Caradhras, die Berge von Moria. Die Waschmaschine läuft drei Runden lang. Wäscheberge trocknen in den Wanten und über dem Großbaum. Wir duschen lange und ausgiebig. Was für eine Wohltat. Am »Paso Shoal« liegt das Wrack des amerikanischen Dampfers SANTA LEONOR hoch und trocken auf den Felsen, ein rostrotes Mahnmal. Nichts wie vorwärts, solange unser Glück hält.
Unser Glück und das Wissen um den nächsten gastlichen Zufluchtsort verdanken wir zu einem nicht unerheblichem Teil unserem sorgfältig gemachten Nautischen Führer, den Insider nur »The Holy Bible« nennen. Mariolina Rolfo und Giorgio Ardrizzi haben Jahrzehnte darauf verwendet, dieses Labyrinth von schlecht kartierten Fjorden und Kanäle mit ihrer Ketsch SAUDADE (Amel Sharki) nach geeigneten Ankerplätzen zu durchkämmen. Also: Falls Ihr von Patagonien träumt, dann besorgt Euch diesen Wälzer: »Patagonia & Tierra del Fuego - Nautical Guide 3rd Edition«, im »Nutrimenti Mare« Verlag erschienen und online erhältlich. Ideale Lektüre am Kamin, am besten genossen im kuscheligen Ohrensessel, und möglichst ohne drei Lagen Merino, Faserpelz, Ölzeug und Seestiefel.
»The Holy Bible« empfiehlt für heute die »Caleta Isthmus«, die wir mit der PAZZO bei Sonnenuntergang erreichen. Ein Abend und eine Nacht fürs Poesiealbum. Die Zeit steht still. Absolute Flaute, das Wasser spiegelglatt. Es reflektiert die Milchstraße und das Sternbild Orion. Es ist so still, das ich (M) mein eigenes Herz schlagen höre (und das Knacken meiner Halswirbel). Ein Wendepunkt? Das Ende der Schaffenszeit und der Beginn des Alters? »Oh Kheled-zâram fair and wonderful! There lies the Crown of Durin till he wakes. Farewell!«
Wir müssen weiter. Die »Caleta Isthmus« ist berühmt für ihre »Williwaws«, Fallböen, die eine Yacht aus dem Wasser reißen können. Cindy und Willy von der PAZZO zieht es ostwärts nach »Puerto Natales«. Dort kann man einkaufen, tanken, oder über die nahe Grenze nach Argentinien fahren, um die VISA zu erneuern. Ein beträchtlicher Umweg, den wir uns ersparen wollen. In Puerto Williams haben wir für nur wenig Zen und eine Runde Summe Dollar eine dreimonatige VISA Verlängerung besorgt. Auch der Dieselvorrat reicht nun sicher bis »Puerto Edén«, unserem bisherigen Wetterglück sei Dank. Die Flaute hält. Vom »Canal Collingwood« geht es in den »Canal Sarmiento«, eng und steil. Für Boote, die nach Norden wollen gilt er, so unsere »Bible«, als absolut unpassierbar, sobald der Nordwestwind dort die Orgel spielt. Und das soll er, ab morgen früh, auf unbestimmte Zeit. Wir bleiben also bis zum Abend dran. Die wildromantische »Caleta Moonlight Shadow« liegt ganz am Ende eines langen, engen Seitenfjordes. Muntere, fettgefressene Delphine begrüßen uns übermütig auf dem Weg hinein und schlagen Purzelbäume. »Nur« noch 170 Seemeilen nach »Puerto Edén«. Das kühle »Austral« ist also wohlverdient. Doch die Orgel holt Luft: Bösartig dreinblickende Zirren ziehen auf. Die Ruhe vor dem Sturm. Wie werden wohl ein paar Tage bleiben müssen.
Herzliche Grüße und alles erdenklich Gute wünschen Euch B und M / SY VERA / Caleta Moonlight Shadow / Isla Piazzi / Chile
1 - Flaute und Regen in den Patagonischen Kanälen.

2 - Abschied vom mächtigen »Seño Pia«. Diesmal fahren wir leichten Herzens vorbei.

3 - Ein aufgescheuchter Albatross.

4 - Die Darwin Kordilleren an Steuerbord.

5 - »Caleta Brecknock«: Ein felsiges Refugium.

6 - VERA und PAZZO in der »Caleta Brecknock«, einem der schönsten Ankerplätze der Welt.

7 - Einer der vielen großen Gletscher am »Kanal Barbara«.

8 - Im »Kanal Barbara«. Voraus segelt die PAZZO auf den berüchtigten »Paso Shag« zu.

9 - »Kanal Barbara«: Mit der PAZZO hoch am Wind.

10 - Südostwind in der Straße des Magellan.

11 - Sonnenaufgang in der Straße des Magellan.

12 - Celebdil, Fanuidhol, Caradhras, Eisriesen in den Kordilleren.

13 - Plünnen trocknen im »Kanal Smyth«.

14 - Das Wrack des amerikanischen Dampfers SANTA LEONOR hoch und trocken am »Paso Shoal«.

15 - Unsere Route in die Magellanstraße und weiter in den »Kanal Sarmiento«.

Nach den vorangegangenen, arbeitsintensiven Wochen der Vorbereitung auf die »Patagonian Channels« war unsere Abreise aus Puerto Williams dringend nötig und irgendwie auch überfällig. Ein gutes Jahr lang war die »Südlichste Ansiedlung der Welt« unser Heimathafen und »Base Camp« für den im Kielwasser der VERA liegenden Törn in die Antarktis. Nun reicht es. Ein Stapel Pizza noch mit den Freunden von der PELAGIC AUSTRALIS bei »Isabelle«, dann der Abschied. Traurig, wie so oft im Seglerleben. Dagegen helfen nur neue Ufer. Ein Wetterfenster tut sich auf: Zwei bis drei Tage Flaute aus Osten im berüchtigten »Beagle Kanal«, sehr selten, egal zu welcher Jahreszeit. Am Vorabend vor dem Auslaufen besorgen wir bei der Armada ein »Zarpe«, eine Genehmigung zur Weiterreise nach »Puerto Edén«. Auf halber Strecke nach Valdivia, mitten in der Patagonischen Wildnis gelegen, bietet dieser kleine Außenposten eine der ganz wenigen Möglichkeiten Diesel zu bunkern. Wir hoffen, die 700 Seemeilen gegen Sturm und Strom mit unseren vergleichsweise begrenzten Dieselvorräten zu schaffen. Der Morgen graut, kalt und nass: Landstromkabel und Wasserschlauch aufschießen, Motor an, ein Spinnennetz von Leinen loswerfen und klarieren, Rückwärtsgang einlegen, winken, Kelpfelder vermeiden, Fender einsammeln. Draussen Flaute, wie zugesagt, dazu Regen und schlechte Sicht. Achteraus verschwindet Puerto Williams im Niesel und Dunst. Es fühlt sich an wie ein Abschied auf immer. Zu verlockend der Gedanke an die Südsee…
Drei lange Tage lang motoren wir, durch einen verhangenen »Beagle Kanal« und endlosen Regen. Ein Segelrevier im eigentlichen Sinne ist diese Gegend nicht. Eine Nacht verbringen wir in der vertrauten »Caleta Olla«, dann geht es weiter gen Westen, vorbei an den mächtigen Gletschern am Wegesrand, die wir dieses mal leichten Herzens passieren. Im vergangenen Jahr waren wir hier auskömmlich unterwegs. Eine weitere nasse Nacht: Zuflucht in der wilden »Caleta Ancha« auf der «Isla Burnt«. Der Überlieferung nach entführte Kapitän Fitzroy auf dieser Insel einst ein kleines Yámana Mädchen und brachte sie später nach England. Mutmaßlich hatten sich die Eltern ein Beiboot der HMS BEAGLE unter die Nägel gerissen. Heute lebt dort kein Mensch mehr, nur Moose und Flechten und Pinguine vom Stamme »Spheniscus magellanicus«. Die dicht gedrängt beieinander stehenden Gruppen von filzigen Bäumen wissen, woher der Wind weht. Buckelwale plantschen im »Canal Ballenero«, dazu muntere Seebären, »Arctocephalinae«, Ohrenrobben also. Albatrosse gibt es auch. Sie sind bei Flaute beinahe flugunfähig. Rückt ihnen die VERA auf die Federn, sehen wir spektakuläre Startversuche mit höchstem Einsatz. Gelegentlich lässt sich die Sonne blicken und die Sicht bessert sich: An Backbord die Islas »Londonderry« und »Stewart«, von Fitzroy und seiner Crew erstmals vermessen und benannt. An Steuerbord die Bergketten der Darwin Kordilleren, schneebedeckte Gipfel bis über 2000 Meter hoch. Lange haben wir von diesem Anblick geträumt. Heute gehört er uns.
03. März 2019, »Caleta Brecknock«, gute 160 Seemeilen westnordwestlich von Puerto Williams gelegen. Wir liegen gut, mit vielen Landleinen längsseits an der türkisen Oyster Lightwave PAZZO von Willy und Cindy aus Seattle, die wir hier unerwartet aufgestöbert haben. Soweit haben wir es gut getroffen. Die Flaute hielt bis vor die Haustür. Unser kleiner Einschnitt in dieser fast kreisrunden Bucht ist sicher einer der schönsten Ankerplätze der Welt. Uns umschließt eine märchenhaft felsige Landschaft, die zur Erkundung einlädt, da man ausnahmsweise einmal nicht bis zur Hüfte im Modder versinkt, sondern nur bis zum Rand der Gummistiefel. Zwei Seen oberhalb der Bucht lassen sich erwandern, in ein paar Stunden auf und ab, über Bäche und Moose, über Stock und Stein und rundgeschliffene Granitfelsen, Aug’ in Aug’ mit Feen und Trollen. Danach schmeckt B’s Kaiserschmarren doppelt so gut und auch der Mittagsschlaf fühlt sich wohlverdient an. Dinner an Bord der VERA mit Willy und Cindy, Drinks mit Gletschereis vom Italia Gletscher am »Beagle Kanal«. Gute Gespräche. Alles bestens.
Ein paar Tage später, vor Anker in der »Caleta Mussels«. Es heult ums Haus, 40 Knoten aus Westen, Regenböen, das übliche in dieser Gegend. Wir haben die »Estrecho de Magallanes«, die Magellanstraße erreicht, an einem guten, langen Tag mit schwachen südwestlichen Winden, durch den »Canal Barbara« mit seinen unberechenbaren Eddies und starken Tidenströmen. PAZZO hat sich mit Landleinen in eine kleine Nische in der Nähe verholt, die vollkommen im Windschatten liegt. Gute Idee. Andererseits erzeugen unsere beiden kleinen Windgeneratoren hier draussen ausreichend Strom für unsere winzige Insel der Zivilisation.
Der Portugiese Magellan war nicht der erste Mensch in dieser feuchten und windigen Wildnis. Abgesehen von der indigenen Besiedlung durch die Selk'nam und die Yaghan, gab es in Europa bereits früher Gerüchte über eine schiffbare Meerenge zwischen Atlantik und Pazifik. António Galvão schrieb im Jahre 1563 über eine alte Karte, und eine obskure Passage tief im Süden der neuen Welt, die dort als »Draco Cola«, der Drachenschwanz eingezeichnet sei, lange vor der Reise des Magellan: »A map which had been found in the Cartorio of Alcobaça, which had been made more than 120 years before.«
Dennoch: »Estrecho de Magallanes«, was für ein Name! Fernão de Magalhães, Thomas Cavendish, Louis Antoine de Bougainville, Antonio de Córdova und Joshua Slocum erlebten in diesen Gewässern ihre Abenteuer. Wir segeln, äh… motoren, im Kielwasser der HMS BEAGLE und Charles Darwins. Wie unendlich mühsam muss es gewesen sein, einen rahgetakelten Großsegler in diesen Gewässern voranzubringen, gegen Wind und Strom! Magalhães und seine Männer schafften es Ende 1520 vom Atlantik kommend in nur sechs Wochen den Ausgang zu einem ihnen unbekannten Ozean zu erreichen, den der Kapitän »Mar Pacifico« nannte, weil er so friedlich vor ihm lag. Ob sie ihre schweren und unhandlichen Galeonen an guten Tagen mit den Beibooten schleppten, oder bei Wind irgendwie mit ihren beuteligen Leinwandsacksegeln aufkreuzten, wissen wir nicht. Bloß gut, das wir den uralten, grünen und sehr zuverlässigen Herrn VOLVO auf unserer Seite haben. 62 Pferdestärken, die einem das Leben sehr erleichtern, wenn es darauf ankommt. Gut auch, das wir über IRIDIUM jederzeit Zugriff auf das recht verlässliche NOAA Wettermodell GFS haben. Heute brauchen wir nicht raus und morgen auch nicht. Westnordwest Stärke acht, Schauerböen, Dauerregen, Kälte. Dinner an Bord der PAZZO. Lecker.
12. März: Es ist es soweit. Ostwind, wie vom GFS versprochen, unglaublich selten in dieser Gegend. PAZZO zieht Groß und Spinnacker und fährt lässig an uns vorbei. Unsere kleine Yankee Genua tut es aber auch. Am Abend erreichen wir die »Caleta Wodsworth« im Ausgang der Magellanstraße, einen Ort der so verwunschen wirkt, das es nicht zu beschreiben ist. Ein großer Wasserfall hängt in den Granitwänden wie ein weißer Bart und rauscht uns nach dem Dinner in den Schlaf. Dies ist mit Sicherheit einer der schönsten und spektakulärsten Ankerplätze der Welt, spektakulärer noch als »Caleta Brecknock«. Wenn wir doch nur bleiben könnten… Doch der Respekt vor dem zornigen Westwind lässt uns keine Wahl. Noch vor Sonnenaufgang gehen wir Anker auf und segeln weiter, diesmal nach Norden, über die breite Mündung der Straße des Magellan. Im berühmt berüchtigten, zumeist unpassierbaren »Canal Smyth«, in dem es eigentlich immer von vorne hämmert, regnet und gegenan strömt, genießen wir in der Folge einen fantastischen Tag mit absoluter Flaue, sengender Sonne und unglaublicher Fernsicht auf die Eisriesen der Kordilleren. Celebdil, Fanuidhol, Caradhras, die Berge von Moria. Die Waschmaschine läuft drei Runden lang. Wäscheberge trocknen in den Wanten und über dem Großbaum. Wir duschen lange und ausgiebig. Was für eine Wohltat. Am »Paso Shoal« liegt das Wrack des amerikanischen Dampfers SANTA LEONOR hoch und trocken auf den Felsen, ein rostrotes Mahnmal. Nichts wie vorwärts, solange unser Glück hält.
Unser Glück und das Wissen um den nächsten gastlichen Zufluchtsort verdanken wir zu einem nicht unerheblichem Teil unserem sorgfältig gemachten Nautischen Führer, den Insider nur »The Holy Bible« nennen. Mariolina Rolfo und Giorgio Ardrizzi haben Jahrzehnte darauf verwendet, dieses Labyrinth von schlecht kartierten Fjorden und Kanäle mit ihrer Ketsch SAUDADE (Amel Sharki) nach geeigneten Ankerplätzen zu durchkämmen. Also: Falls Ihr von Patagonien träumt, dann besorgt Euch diesen Wälzer: »Patagonia & Tierra del Fuego - Nautical Guide 3rd Edition«, im »Nutrimenti Mare« Verlag erschienen und online erhältlich. Ideale Lektüre am Kamin, am besten genossen im kuscheligen Ohrensessel, und möglichst ohne drei Lagen Merino, Faserpelz, Ölzeug und Seestiefel.
»The Holy Bible« empfiehlt für heute die »Caleta Isthmus«, die wir mit der PAZZO bei Sonnenuntergang erreichen. Ein Abend und eine Nacht fürs Poesiealbum. Die Zeit steht still. Absolute Flaute, das Wasser spiegelglatt. Es reflektiert die Milchstraße und das Sternbild Orion. Es ist so still, das ich (M) mein eigenes Herz schlagen höre (und das Knacken meiner Halswirbel). Ein Wendepunkt? Das Ende der Schaffenszeit und der Beginn des Alters? »Oh Kheled-zâram fair and wonderful! There lies the Crown of Durin till he wakes. Farewell!«
Wir müssen weiter. Die »Caleta Isthmus« ist berühmt für ihre »Williwaws«, Fallböen, die eine Yacht aus dem Wasser reißen können. Cindy und Willy von der PAZZO zieht es ostwärts nach »Puerto Natales«. Dort kann man einkaufen, tanken, oder über die nahe Grenze nach Argentinien fahren, um die VISA zu erneuern. Ein beträchtlicher Umweg, den wir uns ersparen wollen. In Puerto Williams haben wir für nur wenig Zen und eine Runde Summe Dollar eine dreimonatige VISA Verlängerung besorgt. Auch der Dieselvorrat reicht nun sicher bis »Puerto Edén«, unserem bisherigen Wetterglück sei Dank. Die Flaute hält. Vom »Canal Collingwood« geht es in den »Canal Sarmiento«, eng und steil. Für Boote, die nach Norden wollen gilt er, so unsere »Bible«, als absolut unpassierbar, sobald der Nordwestwind dort die Orgel spielt. Und das soll er, ab morgen früh, auf unbestimmte Zeit. Wir bleiben also bis zum Abend dran. Die wildromantische »Caleta Moonlight Shadow« liegt ganz am Ende eines langen, engen Seitenfjordes. Muntere, fettgefressene Delphine begrüßen uns übermütig auf dem Weg hinein und schlagen Purzelbäume. »Nur« noch 170 Seemeilen nach »Puerto Edén«. Das kühle »Austral« ist also wohlverdient. Doch die Orgel holt Luft: Bösartig dreinblickende Zirren ziehen auf. Die Ruhe vor dem Sturm. Wie werden wohl ein paar Tage bleiben müssen.
Herzliche Grüße und alles erdenklich Gute wünschen Euch B und M / SY VERA / Caleta Moonlight Shadow / Isla Piazzi / Chile
1 - Flaute und Regen in den Patagonischen Kanälen.

2 - Abschied vom mächtigen »Seño Pia«. Diesmal fahren wir leichten Herzens vorbei.

3 - Ein aufgescheuchter Albatross.

4 - Die Darwin Kordilleren an Steuerbord.

5 - »Caleta Brecknock«: Ein felsiges Refugium.

6 - VERA und PAZZO in der »Caleta Brecknock«, einem der schönsten Ankerplätze der Welt.

7 - Einer der vielen großen Gletscher am »Kanal Barbara«.

8 - Im »Kanal Barbara«. Voraus segelt die PAZZO auf den berüchtigten »Paso Shag« zu.

9 - »Kanal Barbara«: Mit der PAZZO hoch am Wind.

10 - Südostwind in der Straße des Magellan.

11 - Sonnenaufgang in der Straße des Magellan.

12 - Celebdil, Fanuidhol, Caradhras, Eisriesen in den Kordilleren.

13 - Plünnen trocknen im »Kanal Smyth«.

14 - Das Wrack des amerikanischen Dampfers SANTA LEONOR hoch und trocken am »Paso Shoal«.

15 - Unsere Route in die Magellanstraße und weiter in den »Kanal Sarmiento«.
