SY VERA

Into the screaming 50th: A voyage to Tierra del Fuego and Cape Horn

027 - DER SÜDEN BRASILIENS / ILHA ANCHIETA BIS RIO GRANDE DO SUL

Hallo Ihr Lieben!

Der Süden Brasiliens. Wie zuletzt bereits erwähnt, liegen gut 700 Seemeilen, also um die 1.300 Kilometer, zwischen Ilha Grande und Rio Grande do Sul an der Grenze zu Uruguay. Viele Wegstunden, wenn man mit einem Segelboot unterwegs und damit abhängig von günstigen Winden ist. Bis vor wenigen Jahren mussten Seefahrer Wetter und Wind so nehmen, wie sie gerade kamen. Man lief aus, bei günstigem Wind, und hoffte auf Neptuns Gunst. Immerhin gibt es in dieser Gegend einen halbwegs gleichmäßigen Rhythmus wechselnder Winde. Nord- oder Nordostwind wird alle paar Tage von einer Kaltfront unterbrochen, die stürmische Tage mit oftmals starkem Südwind bringen. Unser Weg führt nach Süden. Da ist starker Südwind nicht gefragt. Einige Tage vor dem Auslaufen analysieren wir daher sorgfältig die aktuellen, im Internet vorliegenden Wetterdaten. Ein »Wetterfenster« soll her, mit möglichst nördlichen Winden für zumindest zwei bis drei Tage.

Der erste längere Schlag nach der »Winterpause« in Ilha Grande bringt uns bei herrlichem Wetter in knapp zwei Tagen über 300 Seemeilen von Ilha Anchieta nach Porto Belo. Genauer gesagt in die
Caixa d’Aço, eine gut geschützte Ankerbucht bei Porto Belo. Das eher ruhige Fischerdorf liegt ein wenig östlich und gegenüber der wild wuchernden Großstadt Itapema, mit ihrer beeindruckenden Skyline. In der Caixa d’Aço liegt eine in der Szene legendäre »Floating Bar«, die der deutschstämmige Edgar vor Jahrzehnten hier verankert hat. Eine lange Reihe von Blauwasseryachten waren zu Gast, und wurden dafür mit einer von Edgar hübsch gemalten Plakette mit Schiffsnamen und Nationalflagge an der Hauswand der Bar verewigt. Lange her. Heute führt Sohn Eric die Geschäfte, die jetzt, in der Nebensaison, eher schleppend gehen. Einst wünschte sich Eric selbst hinaus, in die weite Welt. Er besitzt sogar ein stäbiges Stahlschiff, die TRYLIM. Vom baldigen Auslaufen ist jedoch keine Rede mehr. Seit vielen Jahren hat ihn der Alkohol fest im Griff. Es geht Eric allerdings noch nicht schlecht genug, um eine Umkehr zu bewirken. Wir sitzen am Tisch Nr. 13 und hören seinem Schnellsprech zu, einer sämigen Mischung aus Portugiesisch, Deutsch und Englisch. Manches hier stimmt uns melancholisch. Edgars Bar war einst ein Leuchtturm einer boomenden Blauwasser Szene, so wie auch der TO-Stützpunkt von Klaus in Angra dos Reis. Hier wie dort haben seinerzeit großartige (und gut dokumentierte) Gelage stattgefunden, mit den abenteuerlustigen Crews von Yachten aus aller Welt, Bergen von Gegrilltem, Kubikmetern von Bier und köstlichen Caipirinhas bis in die sternenklare Nacht. Heutzutage segelt hier kaum mehr jemand. Die Einträge in Erics ehrwürdigem Gästebuch sind alt. Einer der letzten stammt von den bekannten englischen Seglern Rachel und Paul Chandler: April 2015. Der einst gut eingetretene Pfad nach Süden scheint zu überwuchern. Wir rätseln über die Gründe: Ist die ältere Seglergeneration, die über Zeit und Geld verfügt, nicht mehr belastbar genug? Wagt die jüngere Generation keinen Ausstieg mehr auf Zeit, weil dann die vita und damit die Karriere hin ist? Oder ist das Leben vor den Bildschirmen in einer »virtual reality« eventuell doch interessanter?

Das nächste »Wetterfenster« für den 400 Seemeilen Törn von Porto Belo nach Rio Grande do Sul ist knapp bemessen. Zunächst soll alles wie gewohnt ablaufen: Nach dem Durchgang der Kaltfront wird es hart aus NE wehen. Aber leider nur für magere 48 Stunden, bevor eine erneute Störung den vermaledeiten Südwind in Sturmstärke bringt. Wir sollten den Hafen von Rio Grande besser vorher erreichen, zumal dieser in einer versandeten Flussmündung liegt, die bei Sturm aus Süd und auslaufender Tide gefährlich brechende Grundseen auf die Jagd schickt…

Die zweite Nacht auf See: NE gut über 30 Knoten, sieben Beaufort. Genua ausgebaumt, zwei Reffs im Groß. Wir laufen gut. Mit Siebenmeilenstiefeln, oft sogar acht oder neun, oder kurz mal gute zehn. Grobe See, mit hohlen Tälern, die wohl der nach wie vor geringen Wassertiefe geschuldet sind. Knapp 60 Meter hier, flaches Kontinentalschelf, 15 Seemeilen vor der nun ebenfalls flachen, sandigen Küste. In den letzten 24 Stunden haben wir über 200 Seemeilen zurückgelegt. Gedankenlos vorbei an einem riesigen, fremden Land, von dem wir fast nichts wissen. Draußen ist es rabenschwarz, allerdings mit einem spektakulären Meeresleuchten, wie wir es kaum jemals zuvor erlebt haben. Die überall brechenden Seen und Schaumkronen leuchten in einem fahlen Blassgrün, wunderschön, aber gespenstisch irgendwie. Irrlichter überall, eine helle Schleppe im Kielwasser, mit dem heulenden Schleppgenerator als Kometenschweif. Ein schlecht beleuchtetes Fischerboot wäre unter diesen Bedingungen schwer auszumachen. Ein Rundumblick dann und wann, evtl. mit dem alten Herrn Hensoldt, und im Zweifelsfall einen Blick aufs Radar (geht jetzt wieder wie frisch gewaschen), mehr können wir nicht tun. Niemand fischt hier heute Nacht. Wir bleiben allein, in einer surrealen, pitschnassen Welt. Bei Wachwechsel steht eine Halse an. Haarige Angelegenheit. Macht aber Sinn, wenn wir nicht im Morgengrauen an Rio Grande do Sul vorbeipreschen wollen…

Bei Tagesanbruch empfängt uns die mächtige Flussmündung mit schokoladenbraunem Wasser und offenen Armen. Ein kurzes Gewitter, dann ist der Wind weg und die Sonne scheint warm aus einem blitzblank geputzten, stahlblauen Himmel, wie wir ihn lange nicht mehr gesehen haben. Die berüchtigte auslaufende Strömung und der mörderische Seegang mit den brechenden Grundseen haben heute ihren freien Tag. Ohne Probleme läuft die VERA unter Maschine zwischen den beeindruckenden Molenköpfen hindurch in die Einfahrt, und gute 14 Seemeilen den Fluss hinauf, bis vor die Altstadt von Rio Grande do Sul. Auf den schweren, schwarzen Steinen der Hafenmole an Steuerbord sonnt sich eine Horde von Seelöwen und begrüßt uns mit Gebrüll. Die Tropen liegen demnach hinter uns. Auch die traditionell in Holz gebauten Fischerboote, die überall in der Flussmündung ankern oder angeln, sehen anders aus als noch zuletzt in der Gegend um Ilha Grande. Die Farbgebung ist ebenso farbenfroh, aber die sehr hoch gezogenen Steven sind deutlich steiler, beinahe senkrecht, wie bei nordischen Fischerbooten. Vielleicht ein Hinweis auf die Herkunft vieler Familien in dieser Gegend? Rio Grande do Sul ist ein Seehafen mit überregionaler Bedeutung. An Backbord ziehen zyklopengroße Frachtschiffterminals, Trockendocks und Werftbetriebe vorbei. Mächtige Kräne verladen Stückgut oder Container auf Frachtschiffe aus aller Herren Länder, also aus Panama, oder Monrovia. Es bringt Spaß, mit der kleinen VERA dicht an den riesigen Stahlkolossen vorbeizutuckern und über die Maßstäbe des heutigen Welthandel zu staunen. Dort hinten müssen wir das Fahrwasser kreuzen und links abbiegen in den Kanal zum Porto Novo, und dann nochmal links zum Porto Velho. Über diverse »Blauwasserblogs« wissen wir, das wir vor dem »
Museu Oceanográfico« willkommen sind, ankern dürfen und mit dem Dinghy anlanden können. Direktor Lauro Barcellos hat ein Herz für Segler. Tatsächlich kommt er gleich mit seinem Motorboot vorbei und lädt uns ein, unentgeltlich am Steg des Museums festzumachen, inklusive Strom und Wasser. Leider ist der Kiel der VERA hierfür zu tief. Man kann eben nicht alles haben. Aber auch der Ankerplatz ist schön. Wir fühlen uns gleich zuhause, zwischen der hemdsärmeligen, bremerhafenartigen Stadtkulisse, einer kleinen, unbewohnten Insel mit Vogelreservat, die Lauro gehört, und dem grünen Museumsgelände. Gen Nordosten reicht der Blick weit hinaus, über die »Lagoa dos Patos« (Ententeich), ein flaches Binnenmeer, über 200km lang. Das erinnert sehr an den Dümmer, an das Steinhuder Meer, oder an die Pötenitzer Wiek. Bei Einbruch der Dunkelheit winkt ein schwer bewaffnete Wachmann vom »Museu« zur Begrüßung herüber, und ein gut gebauter Seelöwe schaut vorbei und schnuffelt an der Bordwand. Zwei eiskalte Bohemia Biere zur Belohnung, dann ab in die Koje. Alles ist gut.

Die nächsten Tage vergehen wie im Flug. Das Einklarieren mit diversen Behördengängen und maximalem Papierkrieg á la Lateinamerika ist Zen: In der Ruhe liegt die Kraft. Einkaufen, Diesel bunkern, 140m Polypropylen Schwimmleine kaufen, Fettiges vertilgen, Café und Kuchen genießen, und manches mehr, sind dann reines Vergnügen. Leere Gasflaschen für drei Monate füllen? Wir fragen den supernetten Vormann des am Steg des Museums liegenden Forschungsschiffes LARUS der Universität von Rio Grande um Rat. Eine Minute später hat er den Gasmann angerufen, der innerhalb von fünf Minuten (!) da ist, und unsere (europäischen) Gasflaschen nebst unseren zum Glück vorhanden Adaptern (EU auf US) einsackt. Er verspricht, morgen um 10.00 wieder da zu sein. Morgen um 09.57: Der Gasmann ist da, mit unseren gut gefüllten 3kg Fläschchen und den Adaptern. Die Kosten: Zu vernachlässigen.
»Competência e qualidade« steht auf seinem Blaumann. So soll es sein.

Rio Grande do Sul, eine Stadt, die auf den ersten Blick ihre besten Zeiten hinter sich hat. Prächtige Gründerzeit- und Kolonialbauten sind zumeist im Verfall begriffen, so wie das herrliche Mosaikpflaster auf den Bürgersteigen. Zeitgenössische Zweckbauten mieser Qualität bestimmen das Stadtbild, wie fast überall auf der Welt. Manches erinnert an die letzten Tage der DDR. Allerdings herrscht eine andere Atmosphäre: In der lebendigen Einkaufsmeile wimmelt es von farbenfrohen Läden und gut gelaunten Menschen. Eigentlich gibt es fast alles zu kaufen, ob Elektronik oder Kleidung, und auch der große Supermarkt ist unerwartet opulent bestückt. Kleine, individuelle Betriebe vom Hardwarestore bis zum Sattler scheinen gut zu laufen. Der Fischmarkt bietet Ansehnliches in guter Qualität. Auch der von Gauchos aus dem Hinterland mit Pferdewagen belieferte Obst und Gemüsemarkt sieht gut aus. B kauft ein Kilo taufrischer Erdbeeren (!), den wir am Abend mit Sahneyoghurt vertilgen. Ein lange entbehrter Genuss. Die immer länger werdenden, klaren blauen Frühlingstage und die ausgedehnte, spektakulär leuchtende Dämmerung sind noch ungewohnt für uns. Der Sommer zieht ein im Süden, und wir sind dabei.

Es ließe sich hier wohl eine Weile aushalten. Aber: Unsere Visa für Brasilien laufen ab. Ein frisches »Wetterfenster« muss her, am besten gleich bis Mar del Plata in Argentinien, gute 500 Seemeilen südwestlich von Rio Grande gelegen. Dafür bräuchten wir zumindest 3 Tage ohne Sturm aus Südwest. Das aber scheint selten zu sein, in dieser Gegend. 30 Stunden Nordwind brächten immerhin die halbe Miete: Sie würden uns zu 200 Seemeilen bis La Paloma in Uruguay verhelfen. Uruguay? Das flache Land der Gauchos? Warum nicht. Wir halten Euch auf dem Laufenden.

Herzliche Grüße an Alle von B und M / SY VERA / Rio Grande do Sul / Brasilien



1 - Segeln kann so schön sein: 300 Seemeilen entlang der brasilianischen Küste nach Porto Belo.
Downwind 1

2 - Die gut geschützte Ankerbucht
Caixa d’Aço bei Porto Belo, vom hübschen Restaurant »Mirante« aus gesehen. Gegenüber die »Skyline« der Großstadt Itapema.
Caixa de Aco

3 - Bei Eric in der legendären »floating bar«: Auch die berühmten Chandlers waren hier.
Chandler Hostage

4 - Solange das Meer noch warm ist: B entfernt letzte Pocken unterm Heck.
Wasserpass

5 - Sonnenuntergang über Itapema.
Itapema Sonnenuntergang

6 - 400 Seemeilen mit Brassfahrt nach Südwesten: Heißer Ritt nach Rio Grande do Sul.
Downwind 2

7 - Die Einfahrt nach Rio Grande do Sul: Steile Steven in Lieblingsfarben.
Steile Steven

8 - Die Hafenfront von Rio Grande do Sul am »Lagoa dos Patos« von unserem Ankerplatz aus gesehen: Hemdsärmelig und vielleicht ein bisschen bremerhafenartig.
Eine Stadt wie gemalt

9 - Rio Grande do Sul: DDR revisited?
DDR reloaded

10 - Rio Grande do Sul: Vergangene Pracht.
Vergangene Pracht

11 - Rio Grande do Sul: Verstaubtes Kleinod in Lindgrün.
Palast

12 - Rio Grande do Sul: Lebendiger Handel vor dem leerstehenden, ehemaligen Hauptpostamt, einem seinerzeit sicherlich sehr ambitionierten, modernen Gebäude.
Kleinod der Moderne

13 - Rio Grande do Sul: Knochiges im »Museu Oceanográfico«.
Museo Oceanographico

14 - Rio Grande do Sul: Blick von unserem Ankerplatz auf das herrliche Gelände des »Museu Oceanográfico«.
Ankerplatz Rio Grande do Sul

15 - Von Ilha Grande nach Rio Grande do Sul: Die Rauten zeigen jeweils unsere Mittagsposition.
Ilha Grande bis Rio Grande do Sul