SY VERA

Into the screaming 50th: A voyage to Tierra del Fuego and Cape Horn

027 - DER SÜDEN BRASILIENS / ILHA ANCHIETA BIS RIO GRANDE DO SUL

Hallo Ihr Lieben!

Der Süden Brasiliens. Wie zuletzt bereits erwähnt, liegen gut 700 Seemeilen, also um die 1.300 Kilometer, zwischen Ilha Grande und Rio Grande do Sul an der Grenze zu Uruguay. Viele Wegstunden, wenn man mit einem Segelboot unterwegs und damit abhängig von günstigen Winden ist. Bis vor wenigen Jahren mussten Seefahrer Wetter und Wind so nehmen, wie sie gerade kamen. Man lief aus, bei günstigem Wind, und hoffte auf Neptuns Gunst. Immerhin gibt es in dieser Gegend einen halbwegs gleichmäßigen Rhythmus wechselnder Winde. Nord- oder Nordostwind wird alle paar Tage von einer Kaltfront unterbrochen, die stürmische Tage mit oftmals starkem Südwind bringen. Unser Weg führt nach Süden. Da ist starker Südwind nicht gefragt. Einige Tage vor dem Auslaufen analysieren wir daher sorgfältig die aktuellen, im Internet vorliegenden Wetterdaten. Ein »Wetterfenster« soll her, mit möglichst nördlichen Winden für zumindest zwei bis drei Tage.

Der erste längere Schlag nach der »Winterpause« in Ilha Grande bringt uns bei herrlichem Wetter in knapp zwei Tagen über 300 Seemeilen von Ilha Anchieta nach Porto Belo. Genauer gesagt in die
Caixa d’Aço, eine gut geschützte Ankerbucht bei Porto Belo. Das eher ruhige Fischerdorf liegt ein wenig östlich und gegenüber der wild wuchernden Großstadt Itapema, mit ihrer beeindruckenden Skyline. In der Caixa d’Aço liegt eine in der Szene legendäre »Floating Bar«, die der deutschstämmige Edgar vor Jahrzehnten hier verankert hat. Eine lange Reihe von Blauwasseryachten waren zu Gast, und wurden dafür mit einer von Edgar hübsch gemalten Plakette mit Schiffsnamen und Nationalflagge an der Hauswand der Bar verewigt. Lange her. Heute führt Sohn Eric die Geschäfte, die jetzt, in der Nebensaison, eher schleppend gehen. Einst wünschte sich Eric selbst hinaus, in die weite Welt. Er besitzt sogar ein stäbiges Stahlschiff, die TRYLIM. Vom baldigen Auslaufen ist jedoch keine Rede mehr. Seit vielen Jahren hat ihn der Alkohol fest im Griff. Es geht Eric allerdings noch nicht schlecht genug, um eine Umkehr zu bewirken. Wir sitzen am Tisch Nr. 13 und hören seinem Schnellsprech zu, einer sämigen Mischung aus Portugiesisch, Deutsch und Englisch. Manches hier stimmt uns melancholisch. Edgars Bar war einst ein Leuchtturm einer boomenden Blauwasser Szene, so wie auch der TO-Stützpunkt von Klaus in Angra dos Reis. Hier wie dort haben seinerzeit großartige (und gut dokumentierte) Gelage stattgefunden, mit den abenteuerlustigen Crews von Yachten aus aller Welt, Bergen von Gegrilltem, Kubikmetern von Bier und köstlichen Caipirinhas bis in die sternenklare Nacht. Heutzutage segelt hier kaum mehr jemand. Die Einträge in Erics ehrwürdigem Gästebuch sind alt. Einer der letzten stammt von den bekannten englischen Seglern Rachel und Paul Chandler: April 2015. Der einst gut eingetretene Pfad nach Süden scheint zu überwuchern. Wir rätseln über die Gründe: Ist die ältere Seglergeneration, die über Zeit und Geld verfügt, nicht mehr belastbar genug? Wagt die jüngere Generation keinen Ausstieg mehr auf Zeit, weil dann die vita und damit die Karriere hin ist? Oder ist das Leben vor den Bildschirmen in einer »virtual reality« eventuell doch interessanter?

Das nächste »Wetterfenster« für den 400 Seemeilen Törn von Porto Belo nach Rio Grande do Sul ist knapp bemessen. Zunächst soll alles wie gewohnt ablaufen: Nach dem Durchgang der Kaltfront wird es hart aus NE wehen. Aber leider nur für magere 48 Stunden, bevor eine erneute Störung den vermaledeiten Südwind in Sturmstärke bringt. Wir sollten den Hafen von Rio Grande besser vorher erreichen, zumal dieser in einer versandeten Flussmündung liegt, die bei Sturm aus Süd und auslaufender Tide gefährlich brechende Grundseen auf die Jagd schickt…

Die zweite Nacht auf See: NE gut über 30 Knoten, sieben Beaufort. Genua ausgebaumt, zwei Reffs im Groß. Wir laufen gut. Mit Siebenmeilenstiefeln, oft sogar acht oder neun, oder kurz mal gute zehn. Grobe See, mit hohlen Tälern, die wohl der nach wie vor geringen Wassertiefe geschuldet sind. Knapp 60 Meter hier, flaches Kontinentalschelf, 15 Seemeilen vor der nun ebenfalls flachen, sandigen Küste. In den letzten 24 Stunden haben wir über 200 Seemeilen zurückgelegt. Gedankenlos vorbei an einem riesigen, fremden Land, von dem wir fast nichts wissen. Draußen ist es rabenschwarz, allerdings mit einem spektakulären Meeresleuchten, wie wir es kaum jemals zuvor erlebt haben. Die überall brechenden Seen und Schaumkronen leuchten in einem fahlen Blassgrün, wunderschön, aber gespenstisch irgendwie. Irrlichter überall, eine helle Schleppe im Kielwasser, mit dem heulenden Schleppgenerator als Kometenschweif. Ein schlecht beleuchtetes Fischerboot wäre unter diesen Bedingungen schwer auszumachen. Ein Rundumblick dann und wann, evtl. mit dem alten Herrn Hensoldt, und im Zweifelsfall einen Blick aufs Radar (geht jetzt wieder wie frisch gewaschen), mehr können wir nicht tun. Niemand fischt hier heute Nacht. Wir bleiben allein, in einer surrealen, pitschnassen Welt. Bei Wachwechsel steht eine Halse an. Haarige Angelegenheit. Macht aber Sinn, wenn wir nicht im Morgengrauen an Rio Grande do Sul vorbeipreschen wollen…

Bei Tagesanbruch empfängt uns die mächtige Flussmündung mit schokoladenbraunem Wasser und offenen Armen. Ein kurzes Gewitter, dann ist der Wind weg und die Sonne scheint warm aus einem blitzblank geputzten, stahlblauen Himmel, wie wir ihn lange nicht mehr gesehen haben. Die berüchtigte auslaufende Strömung und der mörderische Seegang mit den brechenden Grundseen haben heute ihren freien Tag. Ohne Probleme läuft die VERA unter Maschine zwischen den beeindruckenden Molenköpfen hindurch in die Einfahrt, und gute 14 Seemeilen den Fluss hinauf, bis vor die Altstadt von Rio Grande do Sul. Auf den schweren, schwarzen Steinen der Hafenmole an Steuerbord sonnt sich eine Horde von Seelöwen und begrüßt uns mit Gebrüll. Die Tropen liegen demnach hinter uns. Auch die traditionell in Holz gebauten Fischerboote, die überall in der Flussmündung ankern oder angeln, sehen anders aus als noch zuletzt in der Gegend um Ilha Grande. Die Farbgebung ist ebenso farbenfroh, aber die sehr hoch gezogenen Steven sind deutlich steiler, beinahe senkrecht, wie bei nordischen Fischerbooten. Vielleicht ein Hinweis auf die Herkunft vieler Familien in dieser Gegend? Rio Grande do Sul ist ein Seehafen mit überregionaler Bedeutung. An Backbord ziehen zyklopengroße Frachtschiffterminals, Trockendocks und Werftbetriebe vorbei. Mächtige Kräne verladen Stückgut oder Container auf Frachtschiffe aus aller Herren Länder, also aus Panama, oder Monrovia. Es bringt Spaß, mit der kleinen VERA dicht an den riesigen Stahlkolossen vorbeizutuckern und über die Maßstäbe des heutigen Welthandel zu staunen. Dort hinten müssen wir das Fahrwasser kreuzen und links abbiegen in den Kanal zum Porto Novo, und dann nochmal links zum Porto Velho. Über diverse »Blauwasserblogs« wissen wir, das wir vor dem »
Museu Oceanográfico« willkommen sind, ankern dürfen und mit dem Dinghy anlanden können. Direktor Lauro Barcellos hat ein Herz für Segler. Tatsächlich kommt er gleich mit seinem Motorboot vorbei und lädt uns ein, unentgeltlich am Steg des Museums festzumachen, inklusive Strom und Wasser. Leider ist der Kiel der VERA hierfür zu tief. Man kann eben nicht alles haben. Aber auch der Ankerplatz ist schön. Wir fühlen uns gleich zuhause, zwischen der hemdsärmeligen, bremerhafenartigen Stadtkulisse, einer kleinen, unbewohnten Insel mit Vogelreservat, die Lauro gehört, und dem grünen Museumsgelände. Gen Nordosten reicht der Blick weit hinaus, über die »Lagoa dos Patos« (Ententeich), ein flaches Binnenmeer, über 200km lang. Das erinnert sehr an den Dümmer, an das Steinhuder Meer, oder an die Pötenitzer Wiek. Bei Einbruch der Dunkelheit winkt ein schwer bewaffnete Wachmann vom »Museu« zur Begrüßung herüber, und ein gut gebauter Seelöwe schaut vorbei und schnuffelt an der Bordwand. Zwei eiskalte Bohemia Biere zur Belohnung, dann ab in die Koje. Alles ist gut.

Die nächsten Tage vergehen wie im Flug. Das Einklarieren mit diversen Behördengängen und maximalem Papierkrieg á la Lateinamerika ist Zen: In der Ruhe liegt die Kraft. Einkaufen, Diesel bunkern, 140m Polypropylen Schwimmleine kaufen, Fettiges vertilgen, Café und Kuchen genießen, und manches mehr, sind dann reines Vergnügen. Leere Gasflaschen für drei Monate füllen? Wir fragen den supernetten Vormann des am Steg des Museums liegenden Forschungsschiffes LARUS der Universität von Rio Grande um Rat. Eine Minute später hat er den Gasmann angerufen, der innerhalb von fünf Minuten (!) da ist, und unsere (europäischen) Gasflaschen nebst unseren zum Glück vorhanden Adaptern (EU auf US) einsackt. Er verspricht, morgen um 10.00 wieder da zu sein. Morgen um 09.57: Der Gasmann ist da, mit unseren gut gefüllten 3kg Fläschchen und den Adaptern. Die Kosten: Zu vernachlässigen.
»Competência e qualidade« steht auf seinem Blaumann. So soll es sein.

Rio Grande do Sul, eine Stadt, die auf den ersten Blick ihre besten Zeiten hinter sich hat. Prächtige Gründerzeit- und Kolonialbauten sind zumeist im Verfall begriffen, so wie das herrliche Mosaikpflaster auf den Bürgersteigen. Zeitgenössische Zweckbauten mieser Qualität bestimmen das Stadtbild, wie fast überall auf der Welt. Manches erinnert an die letzten Tage der DDR. Allerdings herrscht eine andere Atmosphäre: In der lebendigen Einkaufsmeile wimmelt es von farbenfrohen Läden und gut gelaunten Menschen. Eigentlich gibt es fast alles zu kaufen, ob Elektronik oder Kleidung, und auch der große Supermarkt ist unerwartet opulent bestückt. Kleine, individuelle Betriebe vom Hardwarestore bis zum Sattler scheinen gut zu laufen. Der Fischmarkt bietet Ansehnliches in guter Qualität. Auch der von Gauchos aus dem Hinterland mit Pferdewagen belieferte Obst und Gemüsemarkt sieht gut aus. B kauft ein Kilo taufrischer Erdbeeren (!), den wir am Abend mit Sahneyoghurt vertilgen. Ein lange entbehrter Genuss. Die immer länger werdenden, klaren blauen Frühlingstage und die ausgedehnte, spektakulär leuchtende Dämmerung sind noch ungewohnt für uns. Der Sommer zieht ein im Süden, und wir sind dabei.

Es ließe sich hier wohl eine Weile aushalten. Aber: Unsere Visa für Brasilien laufen ab. Ein frisches »Wetterfenster« muss her, am besten gleich bis Mar del Plata in Argentinien, gute 500 Seemeilen südwestlich von Rio Grande gelegen. Dafür bräuchten wir zumindest 3 Tage ohne Sturm aus Südwest. Das aber scheint selten zu sein, in dieser Gegend. 30 Stunden Nordwind brächten immerhin die halbe Miete: Sie würden uns zu 200 Seemeilen bis La Paloma in Uruguay verhelfen. Uruguay? Das flache Land der Gauchos? Warum nicht. Wir halten Euch auf dem Laufenden.

Herzliche Grüße an Alle von B und M / SY VERA / Rio Grande do Sul / Brasilien



1 - Segeln kann so schön sein: 300 Seemeilen entlang der brasilianischen Küste nach Porto Belo.
Downwind 1

2 - Die gut geschützte Ankerbucht
Caixa d’Aço bei Porto Belo, vom hübschen Restaurant »Mirante« aus gesehen. Gegenüber die »Skyline« der Großstadt Itapema.
Caixa de Aco

3 - Bei Eric in der legendären »floating bar«: Auch die berühmten Chandlers waren hier.
Chandler Hostage

4 - Solange das Meer noch warm ist: B entfernt letzte Pocken unterm Heck.
Wasserpass

5 - Sonnenuntergang über Itapema.
Itapema Sonnenuntergang

6 - 400 Seemeilen mit Brassfahrt nach Südwesten: Heißer Ritt nach Rio Grande do Sul.
Downwind 2

7 - Die Einfahrt nach Rio Grande do Sul: Steile Steven in Lieblingsfarben.
Steile Steven

8 - Die Hafenfront von Rio Grande do Sul am »Lagoa dos Patos« von unserem Ankerplatz aus gesehen: Hemdsärmelig und vielleicht ein bisschen bremerhafenartig.
Eine Stadt wie gemalt

9 - Rio Grande do Sul: DDR revisited?
DDR reloaded

10 - Rio Grande do Sul: Vergangene Pracht.
Vergangene Pracht

11 - Rio Grande do Sul: Verstaubtes Kleinod in Lindgrün.
Palast

12 - Rio Grande do Sul: Lebendiger Handel vor dem leerstehenden, ehemaligen Hauptpostamt, einem seinerzeit sicherlich sehr ambitionierten, modernen Gebäude.
Kleinod der Moderne

13 - Rio Grande do Sul: Knochiges im »Museu Oceanográfico«.
Museo Oceanographico

14 - Rio Grande do Sul: Blick von unserem Ankerplatz auf das herrliche Gelände des »Museu Oceanográfico«.
Ankerplatz Rio Grande do Sul

15 - Von Ilha Grande nach Rio Grande do Sul: Die Rauten zeigen jeweils unsere Mittagsposition.
Ilha Grande bis Rio Grande do Sul

026 - BRASILIEN / PARATY UND ABSCHIED VON ILHA GRANDE

Hallo Ihr Lieben!

»Ilha Grande«, ein Traum für Fahrtensegler: Tausend tropische Inseln, traumhafte Ankerplätze, herrliche Strände, angenehmes Klima, eine grandiose Tierwelt, viel Kultur. Romantische »Floating Bars«, interessante Begegnungen, gute Gespräche, in aller Ruhe. Irgendwann aber kommt der Moment, an dem die Segel hoch müssen. Sehnsucht nach Krängung, nach dem Rauschen der Bugwelle, nach der Ferne. Mark Twain hatte Recht: »Broad, wholesome, charitable views of men and things cannot be acquired by vegetating in one little corner of the earth.« Und: Pläne sind die Versprechungen, die die Phantasie dem Verstand macht. Unser Visum für Brasilien läuft bald ab. 700 Seemeilen sind es nach Rio Grande del Sul an der Grenze nach Uruguay. Zwei längere Törns zu zwei bis drei Tagen sollten uns dorthin bringen.

Der Abschied: Kurs Südwest, mit frischem Rückenwind, acht Knoten unter Groß und ausgebaumter Genua. Zurück im Sattel. Das fühlt sich gut an. Das kurze Wetterfenster mit brauchbarem Nordostwind bringt uns problemlos nach »Ilha Anchieta«, 50sm südwestlich von unserem letzten Ankerplatz am Eingang zum »Saco de Mamangua«. Von »Ilha Anchieta« aus planen wir nach dem Durchgang einer Front mit starkem Südwind Kurs auf Porto Belo zu nehmen, das ungefähr auf halber Strecke nach Rio Grande del Sul liegt…

Die vergangenen Wochen in der Gegend um »Ilha Grande« waren geprägt von weiteren notwendigen und teilweise mühsamen Arbeiten am Boot, und einer üblen Magen Darm Grippe, die uns beide traf, Zeit kostete, und gedrückte Stimmung verursachte. Dazu kamen unerwartete Defekte, die tagelange, zusätzliche Arbeit bedeuteten: Die Anzeige für den Öldruck der Hauptmaschine zuckt und zeigt bei höheren Drehzahlen abartigen Öldruck gegen unendlich. Die langwierige Fehlersuche lässt auf einen defekten Öldrucksensor schließen. Ein guter Freund und Blauwassersegler wird uns nun ein Ersatzteil nach Mar del Plata mitbringen. Gleich darauf fiel dann auch noch das Radargerät (NAVICO BROADBAND) aus. Das wäre zu verschmerzen, solange wir nirgendwo auf schlechte Sicht treffen. Das Gerät ist noch beinahe neu und so interessiert es uns dann doch, wo das Problem liegt. Nacheinander prüfen wir Stromversorgung, Plotter (Anzeigegerät), Anschlussbox und das Anschlusskabel bis zur Antenne. Alles ohne Befund. Erst als wir im Rigg das Radom zerlegen, finden wir den Ansatz einer Erklärung. Alles schwimmt darin. Motor, Anschlüsse und Elektronik liegen trotz Gummidichtung tief unter Wasser. Regenwasser, Gott sei Dank. Mit wenig Hoffnung auf Erfolg zerlegen wir das komplizierte Gerät in seine Einzelteile, reinigen Kontakte und diverse Platinen, sprühen Kontaktspray und trocknen alles in der Sonne. Der Probelauf am Abend bringt das Wunder: Das Hightech Radar läuft wieder ohne Probleme, so wie im Prospekt versprochen. Die schlecht konstruierte Gummidichtung hat jetzt eine zusätzlichen Verteidigungswall aus Klebeband. Der sollte helfen.

Zur Belohnung unternehmen wir daraufhin einen beeindruckenden Ausflug nach Paraty, dem einmaligen Kleinod für Touristen in dieser Gegend. B und ich nähern uns dem ehrwürdigen Ort, wie es sich gehört: Vom Wasser aus. Die Bucht vor dem Hafen ist recht flach und so lassen wir die VERA eine Meile weiter draussen liegen, zwischen einheimischen Ankerliegern vor der »Marina Engenho«. BOUNCE, unser Beiboot bringt uns dann rasch, auf spiegelglattem Wasser fliegend, hinüber zum alten Hafen und in die Stadt. Wie von Marcel und Joanna versprochen, findet sich dort ein Laternenpfahl an der alten Pier, an dem wir BOUNCE halbwegs sicher vor Dieben zurücklassen können. Schon die ersten Schritte auf die herrliche, alte Stadt zu erweisen sich als Genuss. Paraty in seiner heutigen Form, entstand zum überwiegenden Teil im 17. Jahrhundert. Charakteristisch sind die prächtigen Kirchen, die weiß getünchten Häuser mit bunten Fenster- und Türeinfassungen und das grobe, original erhaltene Kopfsteinpflaster, das bei Springtide knöcheltief überspült wird. Die historische Altstadt steht seit 1958 unter Denkmalschutz und ist für den Autoverkehr gesperrt. Über Paraty (u.a. der Geburtsort der Mutter von Thomas Mann) gäbe es unendlich vieles zu erzählen. Ich (M) werde es in diesem Fall mit Rousseau halten: »Freiheit ist nicht, dass man tun kann, was man will, sondern, dass man nicht tun muss, was man nicht will.« Wer wirklich mehr erfahren will, der sollte bei Joanna von der SY CHULUGI nachlesen, die ein sehr schönes und sorgfältig recherchiertes
Portrait über Paraty erarbeitet hat.

Noch etwas? Klar: BOUNCE haben wir nach dem berühmten Hund von Admiral Cuthbert Collingwood benannt. »
My dog is a charming creature. Everybody admires him. He is grown as tall as the table I am writing on.«

Herzliche Grüße an Alle von B und M / SY VERA / Ilha da Cotia / Rio de Janeiro / Brasilien



1 - Zurück im Sattel: Mit acht Knoten vor dem Wind, unter repariertem Groß und einer taufrischen Genua.
Downwind

2 - Zwei gute Monate in der Gegend um »Ilha Grande«.
Karte mit Kursen

3 - Mit neugewonnenen brasilianischen Freunden in »Bacana‘s Bar«.
Bacanas Bar

4 - Fedriger Besuch an Bord.
Reiher

5 - »Mangues«: Ein flauschiges Marmoset Äffchen.
Marmoset

6 - »Mangues«: B beim Bouldern.
B beim Bouldern

7 - Das teure Radargerät mit offenem Herzen.
Radar

8 - Eine der beiden großen Lewmar Genuawinschen während der anstehenden Wartung.
Genuawinsch

9 - Spleiße und Näharbeiten für den tiefen Süden.
Spleiße

10 - BOUNCE bringt uns über die Lagune nach Paraty.
BOUNCE in Paraty

11 - Paraty: Noch heute eine Idylle ohne Autos.
Kutsche in Paraty

12 - Paraty: Endlich mal wieder Cafe und Kuchen.
B im Cafe

13 - Hübscher Geldschein mit Jaguar.
Jaguar

14 - B in Paraty.
B in Paraty

15 - Traumauto in Lieblingsfarbe.
T1 Türkis



025 - BRASILIEN / ILHA GRANDE: DAS FRÜHJAHR RÜCKT NÄHER

Hallo Ihr Lieben!

Unser Erholungsurlaub in der Inselwelt von Ilha Grande neigt sich dem Ende zu. Leider. Es ist wunderschön hier, unter Palmen, Fregattvögeln, Brüllaffen und freundlichen »Locals«. An die herrlich friedlichen Ankerplätze, die frischen Kokosnüsse und Bacana‘s köstliche Pastéis de Camarão haben wir uns auch gewöhnt. Dennoch: Der Frühling naht. Wir wollen bald weiter, Süd machen, möglichst ohne Zeitdruck.

Bevor wir unter Segel gehen sind allerdings ein paar Kleinigkeiten zu erledigen. Ein gründlicher Riggcheck steht an. 16 Winschen lechzen nach Fett, nachdem sie wochenlang im Salzwasser gebadet haben. Pickliger Chrom und rostiger Edelstahl wollen poliert werden. Das eingerissene Großsegel der VERA muss zum Segelmacher. Aber welchem? Beinahe jeder der hilfsbereiten Brasilianer an den Ankerplätzen hat einen anderen Tip. Letztlich wählen wir den bequemen Weg: Joanna und Marcel haben für ihre
CHULUGI derzeit einen privaten Liegeplatz in Bracuhy gemietet. Ein gut gemachter Schwimmsteg liegt da vor einem hübschen Baugrundstück an einem langen, gewundenen Kanal, an dem hunderte von Villen stehen, die meisten mit Steg und Yacht davor. Schräg gegenüber sitzt die gut beleumundete Firma TLALOC, die Segelmachermeister Dalmo vor 20 Jahren gegründet hat ( https://tlaloc.site/category/produtos-para-veleiros/ ). Die Wirtschaftskrise hat sein Betrieb gut überstanden. In der Marina Bracuhy und im gesamten Gebiet der Ilha Grande liegen tausende von Yachten in allen Größen, die alle sehr wohlhabenden Brasilianern gehören, und alle benötigen sie Segel, Persenninge, Biminidächer, Sprayhoods, Cockpitpolster und Schonbezüge aller Art, oder Reparaturen an denselben. Dalmo ist nicht billig, wie man uns erklärt, aber der beste weit und breit.

B und ich verankern die VERA draußen, vor der Einfahrt nach Bracuhy und schlagen die Segel ab. Das klingt leicht, ist aber stundenlange, schwere Arbeit für uns zwei. Im Großsegel finden wir drei gebrochene, glasfaserpieksige GFK Latten. Einige der Mastrutscher laufen auf zerbröselten Kugeln. Zum Glück haben wir für alles Ersatz an Bord. Unsere alte, unzerstörbare Genua, den »Neunmalverfluchten Sack«, wollen wir nach 17 Jahren und 50.000sm beerdigen. Dalmo wird das Material verwenden, um das Großsegel großflächig zu verstärken. Der »Neunmalverfluchten Sack« wiegt gefühlte 100kg, das Groß beinahe noch mal so viel. Mit beiden Segeln beladen liegt BOUNCE, unser kleines Gummiboot, sehr tief im Wasser, aber wir schaffen es schwimmend bis an Dalmo‘s Anleger, tief drinnen im Kanal. Bald darauf liegen die Segel ausgebreitet auf Dalmo’s Schnürboden, zur eingehenden Analyse: Wir finden noch ein paar weitere, kleine Probleme im Großsegel, aber nach den entsprechenden Näharbeiten sollte es wieder voll belastbar sein. Der »Neunmalverfluchte Sack« ist ein anderes Thema. Dalmo will ihn nicht zerschneiden. Gerade im Vorliek und in der Mitte sieht das unzerstörbare Hydranetmaterial noch beinahe neu aus. Da trifft es sich, das Joanna und Marcel auch da sind, mit ihrem ebenfalls reparaturbedürftigen Großsegel. Dalmo sagt, das CHULUGI‘s altes Dacron Groß zu porös zum reparieren ist. Er kann aber aus dem »Neunmalverfluchten Sack« ein neues, unzerstörbares Großsegel für die CHULUGI bauen, zu einem guten Preis. Joanna und Marcel schlagen ein, und übernehmen dafür fairerweise auch unsere Reparaturrechnung. Ein guter Ausgang für uns, und der Freispruch für den »Neunmalverfluchten Sack«, der nun weiterhin auf große Fahrt darf.

Wir feiern das mit Joanna und Marcel mit einer herrlichen Grillparty auf der Wiese am Liegeplatz der CHULUGI. Vom hier aus hat man einen wunderbaren Blick den Kanal von Bracuhy hinunter. Überall Villen mit eigenem Anleger. Luxus pur, wenn man von dem Umstand absieht, das alle Häuser hier in »gated communities« stehen, also in Gruppen umzäunt und von Sicherheitsdiensten bewacht. Auch Dalmo hat uns eindringlich davor gewarnt, das abgezäunte Gelände zu verlassen… viel zu gefährlich. Gestalterisch sind die meisten Bauten von fragwürdigen Qualität, aber das wäre in D auch so. Architektur ist das hier alles nicht. Aber andererseits: Am Wasser leben, nach dem Job am Boot werkeln, an den Wochenenden und in den Ferien segeln gehen? Ein Jugendtraum. Wir reden über ein Haus hier, an diesem Platz. Wie müsste es aussehen? Das Thema Architektur liegt hinter mir. Dennoch steige ich ein, vielleicht ein wenig dogmatisch. Ist Architektur Dienstleistung? Ist der Architekt ein Dienstleister, dem man sagt, wie man sein Haus haben will? Ich kann das so nicht sehen. Ist Architektur also Kunst? Was ist Kunst? Für mich ist der Kunstbegriff mit Bedeutung überfrachtet. Ich sehe sie gleichrangig mit anderen Phänomenen, in denen Qualität eine Rolle spielt. Was ist Qualität? Noch mal bei Pirsig nachlesen… Am Ende bin ich froh, den Traum vom Haus mit eigenem Anleger zurückzulassen. Enge Bindungen geben Halt, aber sie nehmen die Freiheit.

Apropos Freiheit: Bezüglich unserer bevorstehenden Weiterreise gen Süden hat sich kurzfristig und unerwartet ein Problem ergeben. Die Kaskoversicherung der VERA gilt nur im zuvor vereinbarten Fahrtgebiet und ist preislich nach Risiko gestaffelt. Demgemäß nehmen wir jeweils vor der Abreise in ein anderes Segelrevier Kontakt zu unserer Versicherungsagentur PANTAENIUS auf, um unser Fahrtgebiet anzupassen. Hier in Brasilien stellt sich nun heraus, das PANTAENIUS die Möglichkeit, Reisen nach Patagonien zu versichern, kurzfristig aus dem Angebot genommen hat. Es soll da einige teure Schadensfälle unterhalb von 50 Grad Süd gegeben haben… Was nun? Unversichert um Kap Hoorn? Das wäre gewagt. Gibt es noch andere Möglichkeiten? Marcel hat einen wertvollen Tip: Eine österreichische Versicherungsagentur, die Patagonien noch im Programm hat. Bald darauf telefoniert B ausgiebig per »skype« mit der netten Sachbearbeiterin der
Agentur Hackspiel. Es stimmt. Patagonien ist bei ihnen mit drin. Und dazu versichert Hackspiel auch noch zu wesentlich günstigeren Konditionen. Vielleicht weil dort, in den Tälern und in den Bergen, die Welt noch in Ordnung ist? Egal. Neben dem Antrag und einer Mitgliedschaft im österreichischen Segler Verband benötigen wir allerdings eine aktuelle Werttaxierung für die VERA. Hier in Brasilien? Nach einiger Recherche im Internet finden wir in Bremen ein renommiertes Büro für Yachtgutachten. Nach Vorlage einer detaillierten Schiffsbeschreibung und einer aktuellen Photodokumentation kann das Büro Weise eine überschlägige Werttaxierung vornehmen, die den Ansprüchen der österreichischen Versicherung genügen sollte. In einigen harten Bürotagen in Sítio Forte erarbeiten wir uns alle benötigten Unterlagen und schicken sie per e-mail los. Wenn alles gut geht, sollten wir nun bald eine neue, österreichische Kasko Versicherung für die VERA abgeschlossen haben, die auch in Patagonien gilt. Wünscht uns Glück.

Durch die Büroarbeit bleibt vieles liegen. »Mindfullnes«? »Auszoomen«? Gymnastik? An der Beweglichkeit, oder an der Haltung arbeiten? Rundrücken begradigen? Gitarre spielen? Spanisch lernen? Roman schreiben? Geht alles irgendwie nie. »Flow« Erlebnisse schafft die Arbeit an den Bildschirmen auch eher nicht. Dafür braucht es kontemplativeres, etwas manuelles, etwas haptisches: Die Fugen des Teakdecks auf dem Brückendeck haben in den letzten Jahren gelitten und müssten erneuert werden. In der Bilge der VERA lagern seit längerem sechs teure Kartuschen
TDS Fugenmasse hierfür, die mit der Zeit nicht frischer werden. Also los: Mit einem scharfen »Cutter« die alten Gummifugen links und rechts einschneiden. Gummifuge mit einem kleinen Schraubenzieher herausprokeln. Fuge mit schmalem Stemmeisen und Schleifpapier sorgfältig säubern, ggf. tiefer legen, aber nach Möglichkeit nicht verbreitern. Schmales »Tape« auf dem Boden der Fuge verlegen. Die neue Fugenmasse soll nur an den Flanken haften. Fugen sorgfältig abkleben. Fugen mit Fugenmasse aus der Kartusche auffüllen. Trocknen lassen. Tape abziehen. Überständiges Material mit dem »Cutter« bündig schneiden. Ggf. alles leicht mit 80er Schleifpapier überarbeiten. Vier Quadratmeter Brückendeck in vielen Tagen, mit krummem Rücken und Pickeln an den Knien. Gut das Bacana auch erstklassige Caipirinhas serviert.

Sonst noch etwas? Aber klar: Zerhackerpumpen hassen lange Mangofasern. Was das genau bedeutet, erkläre ich (M) Euch an dieser Stelle nicht.


Herzliche Grüße an Alle von B und M / SY VERA / Sítio Forte / Ilha Grande / Brasilien



1 - Der kleine, aber nicht unproblematische Riss im Großsegel der VERA, oberhalb des ersten Reffpunktes.
Riss im Großsegel

2 - Die CHULUGI an ihrem privaten Anleger in Bracuhy
CHULUGI in Bracuhy

3 - Beim Segelmacher in Bracuhy: CHULUGI‘s altes Großsegel auf dem »Neunmalverfluchten Sack«. Mitte: Marcel. Links: Dalmo.
Beim Segelmacher

4 - Ein Klassiker von S&S in Bracuhy: Swan 55/003 SEA WIFE, ex PLUFT, Indienststellung 1970. (PLUFT: Der freundliche Geist aus einem brasilianischen Kindertheaterstück von 1955). Näheres unter:
https://classicswan.org/upload/articles_swan/2016_10_18_22_49_23-1970_yachting.pdf
SEA WIFE in Bracuhy

5 - Bracuhy aus dem Orbit. Rot: CHULUGI‘s Liegeplatz. Türkis: Dalmo‘s Segelmacherei. Gelb: Liegeplatz der SEA WIFE. Hellblau: Ankerplatz der VERA.
Bracuhy aus dem Orbit

6 - Ihr habt Euch schon immer gefragt, wie wir so wohnen, an Bord der VERA? Hier der (gewohnte) Blick in den Salon:
Chaos

7 - Und hier einmal aufgeräumt (nur für das Photo).
Blick in den Salon

8 - Unsere Küche. Abwasch ist gemacht.
Pantry und Niedergang

9 - Die gemütliche Kabine mit der verbreiterten Koje. Links geht es ins Bad.
Kabine

10 - Ruhe und Kontemplation 1.
Teakdeck

11 - Ruhe und Kontemplation 2.
Rummanschen im Paradies

024 - BRASILIEN / ILHA GRANDE

Hallo Ihr Lieben!

Wie beschrieben hatten wir uns entschlossen, ein wenig im tropischen Brasiliens zu tarieren, ein wenig Erholung suchen, vom zurückliegenden Törn von Cabo Verde über den Äquator hierher, ein paar Kleinigkeiten an Bord reparieren. Stress mit der Bürokratie, oder der Kriminalität in den größeren Städten wollen wir vermeiden. So zog es uns in das Traumrevier Brasiliens, in die großen Bucht der tausend Inseln zwischen S
ão Paulo und Rio de Janeiro, nach Ilha Grande. Und für diese Entscheidung werden wir nun belohnt. Brasilien im besten Licht. Das dies nicht das ganze, das echte Brasilien ist, sondern nur eine, wenn auch traumhaft schöne, Kulisse in den unter Naturschutz stehenden Resten des ehemals mächtigen atlantischen Regenwaldes ist uns klar. Ilha Grande lässt sich mit der Gegend um Oberammergau vergleichen. Landschaftlich und klimatisch gibt es Parallelen, gerade jetzt, im Südwinter. Bergseen, Bergpanorama, dichter Wald, kühle, klare Luft, der Morgentau pitschnass. Sonnige, nicht zu warme Tage. Des Nachts die gute Daunendecke. Die zahllosen, herrlichen Ankerplätze gehören unter der Woche uns allein. Nur am Wochenende gesellen sich ein paar brasilianische Boote dazu. Im Sommer, in der Ferienzeit, soll hier die Hölle los sein…

Das Einklarieren in der Kleinstadt Angra dos Reis am Festland gestaltet sich entspannt. Klaus, Ende 70, Leiter des hiesigen
TO Stützpunktes und seit 40 Jahren Wahlbrasilianer, fährt uns durch die Stadt und hilft uns rührend bei den diversen Behördengängen, beim Geld abheben am Automaten, und beim bunkern, i.e. dem anstehenden Großeinkauf. Später, beim Kaffee auf der Veranda seiner ein wenig aus der Zeit gefallenen »Pousada (Portugiesisch für Pension) do Alemão« stellt sich heraus, das Klaus voll großartiger Geschichten steckt, die es wert wären, in einer gut bebilderten Biographie gewürdigt zu werden. Die frühen achziger Jahre, der Regenwald am Amazonas: Klaus organisiert jahrelang die Südamerikaversion der »Camel Trophy«, ein Mammutprojekt der Zigarettenindustrie, mit 20 harten Geländewagen, dutzenden Begleitfahrzeugen und 40 stählernen Helden aus aller Herren Länder. Unberührter Urwald, ein mächtiger, gewundener Fluss, labyrinthische Mangroven, tiefer, tödlicher Schlamm, Flöße, Behelfsbrücken, Piranhas, Anacondas, Blutegel und schwellende Muskeln… Noch heute besitzt Klaus neben einem geländegängigen Vorkriegslastwagen einige original erhaltene, klassische JEEP Geländewagen, mit denen er ganz Südamerika bereist hat, als die Welt noch wild war. Das war vor seiner Zeit als Segler. Draussen, an einer Mooring vor der Pousada liegt sein klassischer 20m Schoner aus Holz, mit dem er lange Zeit in der Gegend um Ilha Grande Charter gefahren ist. Noch ist das Schiff in gutem Zustand, so wie die Autos, aber Klaus wird nicht jünger. Die Geschäfte gehen schlecht, sagt er. Die Wirtschaftskrise. Die ständig zunehmende Kriminalität, die brasilianische Ehefrau, die es vorzieht in der komfortablen Wohnung in Rio zu bleiben… Wir können nicht helfen, leider. Anker auf.

Wir treffen auf die CHULUGI, mit der wir schon seit geraumer Zeit per e-mail in Kontakt standen. Die elegant schwarz lackierte, stählerne Koopmans Sloop kennen wir von unserer ersten langen Reise. Voreigner Marlene und Tejo halfen uns im Jahr 2007 beim »Linehandling« durch den Panama Kanal. Nun gehört sie Joanna und Marcel, die seit vier Jahren an Bord leben und schon viel Erfahrung in Südamerika gesammelt haben (
http://www.chulugi.de/). Das kommt uns nun zugute. In kurzer Zeit lernen wir eine Auswahl der schönsten Buchten, Wanderungen, Bars und einige einheimische Segler kennen, die auch nicht mit ihrem Wissen und guten Ratschlägen geizen.

Vila do Abra
ão, Hauptort und Hafen auf Ilha Grande: Ein Haufen kleiner Holzhäuser entlang des langen Kokospalmen Strandes, meist in hübschen Pastellfarben gestrichen. Viele Pousadas, Pensionen für Sommergäste. Cafés, Restaurants, so gerade zwei Minimärkte. Ein herrlicher Ort zum Urlaub machen. Das war nicht immer so. Ilha Grande: Jahrhundertelang Umschlagplatz und Quarantänestation für den Sklavenhandel, Leprakolonie, Gefangenenlager. Joanna und Marcel überreden uns zu einer längeren Wanderung quer durch den Urwald nach Dois Rios auf die offene Atlantikseite. Dort befinden sich die Ruinen des ehemaligen, erst 1994 geschlossenen Hochsicherheitsgefängnisses (heute Museum: https://museucarcereuerj.blogspot.com/ ), und ein hübsches Dorf am Strand, wo seinerzeit die Angestellten des Gefängnisses und ihre Angehörigen untergebracht waren. Steil steigt der Pfad bergan, über Stock und Stein. Der Wald birst vor Leben und Lauten. Brüllende Brüllaffen, exotische Vögel in allen Größen und Farben, bekannte und unbekannte Früchte an beinahe jedem Baum. Der Artenreichtum ist atemberaubend. Überall fließt Wasser, quicklebendig, klar und erdig, in murmelnden Bachläufen zwischen ungestüm aufgestapelten Granitfelsen. Der Garten Eden. Charles Darwin (»The Voyage of the BEAGLE« 1831 - 1836) schreibt: »The day has past delightfully. Delight itself, however, is a weak term to express the feelings of a naturalist who, for the first time, has wandered by himself in a Brasilian forest.« Am Abend und zurück an Bord der VERA sind die Füsse wund, die Beine zerstochen und die Batterien alle. Wir braten uns zwei große Steaks und fallen in die Koje. Ein guter Tag.

Enseada (Portugiesisch für Bucht) de Sítio Forte, Joanna und Marcel’s Lieblingsbucht, auf der Nordwestseite der Ilha Grande. CHULUGI und VERA ankern beieinander, kaum einen Steinwurf entfernt von »Bacana‘s Floating Bar«, DEM Geheimtipp für Feinschmecker in der Gegend. »Bacana« ist der passende Spitzname des Besitzers, portugiesisch für toll, fetzig, cool, oder dufte… Bacana, klein und quirlig, sieht aus wie ein gut gelaunter Indio. Vielleicht ist er es auch, obwohl die Portugiesen in dieser Gegend alle Indios umgebracht haben, vor langer Zeit. Mit seiner hübschen und munteren Frau wirbelt er an den Wochenenden zwischen Küche, Tischen und Booten auf dem Ankerplatz und liefert eiskalte Biere, köstliche Longdrinks und fisch- und muschellastige Delikatessen von Weltformat vom Grill. Man kann auf der Terrasse essen, oder an Bord. Bacana liefert mit dem Langboot. Er kommt auch mehrmals, zum abräumen, oder falls jemand zusätzliche Servietten will… Sítio Forte, das Paradies auf Erden. Reizende braune Tölpel und riesige, gabelschwänzige Fregattvögel fischen hier mit großem Erfolg. Gerade die Fregatten erinnern an die Flugsaurier aus Arthur Conan Doyles »Lost World«. Beeindruckend, wie sie sich in einiger Höhe zusammenfalten, wie ein Torpedo ins Wasser donnern, und kurz darauf auftauchen, meist mit der zappelnden Beute im Schnabel. Beinahe täglich bekommt man Besuch von Delphinen oder Meeresschildkröten. Am Strand kann man aus einer Quelle köstliches, klares Wasser auffangen, direkt aus dem Berg. Der damit bei Tagesanbruch aufgegossene Earl Grey schmeckt einzigartig zum morgendlichen, großen Konzert der Brüllaffen. Des Nachts spiegeln sich Mond und Sterne auf dem spiegelglatten Wasser. Kein Wunder, das wir uns schon bald recht heimisch fühlen. Joanna und Marcel spielen nicht grundlos mit dem Gedanken, in der Gegend zu bleiben, und ein hübsches Haus am Wasser zu erwerben…

Lebensentwürfe bespricht man am besten am Strand, beim langen Spaziergang.
Hier hat die Ilha Grande kaum überbietbares zu bieten: Man ankere gut geschützt, auf spiegelglattem Wasser und perfekt haltendem Grund vor dem Praia (Portugiesisch für Strand) dos Mangues. Ein Trampelpfad durch den dichten Busch führt zum langen Praia Lopez Mendes auf der Atlantikseite, der manchem Connaisseur als schönster Strand Brasiliens gilt. Wir wissen es nicht, aber viel spektakuläreres kann es unserer Erfahrung nach nicht geben. Vielleicht haben wir auch nur Glück. Das Wetter ist kalt und windig heute. Wir gehen früh los. Kein Mensch weit und breit, nur ein freundlicher schwarzer Hund, der uns lange begleitet, und ein Paar reizende, eichhorngroße Marmoset Äffchen in den Bäumen. Der Sand ist feiner, als alles bisher gespürte, er quietscht unter den Schritten, wie trockener Neuschnee. Es herrscht tiefe Ebbe, was dem Strand mehr Würde verleiht. Der Blick reicht weit, hinaus, in den offenen Atlantik. Erst auf dem Rückweg begegnen wir ein paar Touristen, die mit Ausflugbooten von Angra dos Reis, oder Abraão in Mangues abgesetzt wurden. Ein Vorteil für uns: Die (auch nicht ganz verkehrte) örtliche »Floating Bar« mit Blick auf die VERA ist ab Mittag in Betrieb. Wir ordern zwei eiskalte »Bohemia« und eine kleine Grillplatte. Gut. In den nächsten Wochen werden wir in Ruhe am Boot arbeiten. Die VERA soll in Bestform sein, wenn in ein paar Wochen der Frühling kommt, und unser endgültiger Aufbruch in den windigen und kalten Süden.

Herzliche Grüße an Alle von B und M / SY VERA / Sítio Forte / Ilha Grande / Brasilien



1 - Topographische Karte von Ilha Grande.
Ilha_Grande_topographic_map

2 - Die Bucht von Ilha Grande lässt sich mit der Gegend um Oberammergau vergleichen.
Bergsee

3 - Bergseen, Bergpanorama, dichter Wald, kühle, klare Luft. Sonnige, nicht zu warme Tage.
Kanu

4 - Typische Pousada (Pension) bei Vila do Abraão / Ilha Grande.
Typische Pousada

5 - Minimarkt in Vila do Abraão / Ilha Grande.
Minimarkt

6 - B im Busch.
Im Busch

7 - Bachlauf im Regenwald.
Bach im Urwald

8 - Sítio Forte, einer unserer Lieblingsplätze. Links im Bild »Bacana‘s Floating Bar«.
Sitio Forte

9 - Fregattvögel in der Thermik.
Fregattvögel

10 - Mangues im Winter.
Mangues

11 - Praia Lopez Mendes, der vielleicht schönste Strand Brasiliens.
Lopez Mendes

12 - Zwei eiskalte »Bohemia« mit Blick auf die VERA.
Bohemia

023 - DURCH DIE DOLDRUMS »NACH DER LINIE« UND WEITER BIS BRASILIEN

Hallo Ihr Lieben!

Die Sonne brennt am Mittag senkrecht aufs Deck, die Füße glühen. Unter Deck ist es kaum besser: 35 Grad und mehr, Luftfeuchtigkeit 100%, der Schweiss rinnt in Strömen. Trotz harter Arbeit mit den Segeln kommen wir nur langsam voran. Wir stehen in der Flaute. Gerade 100 Seemeilen südlich der Kapverdischen Inseln haben wir die »Intertropische Konvergenzzone« erreicht. Kaum Wind in dieser Gegend, egal, ob man sie nun Kalmengürtel, Mallungen oder Doldrums nennt. Durch das Fehlen der Corioliskraft in Äquatornähe wissen die Luftdrucksysteme nicht so recht, in welche Richtung sie sich drehen sollen. Das kostet Nerven. Ein Buch über die »Stoa« sollte mir (M) eigentlich dabei helfen, den Magen und den Schultergürtel zu entspannen. Allein, es fällt mir schwer. Das selbstzerstörerische klappern der beinahe wirkungslosen Segel im Rigg tut weh. Die ersten Tage auf See sind die anstrengenden.

500 Seemeilen östlich liegt die Hafenstadt Dakar im Senegal. Nur wenig südlich die Republik Gambia. Der Gambia Fluss gilt, trotz gewisser politischer Turbulenzen (seit 2015 »Islamische Republik«), als Traumziel für Fahrtensegler, und wird in den informativeren Blogs überwiegend positiv besprochen: Weltoffene, freundliche Menschen, dazu Löwen, Hyänen, Schimpansen, Krokodile und Flusspferde. Wir sollten uns also im Prinzip mal dort umsehen. Aber: Man kann seine Zeit nur einmal verbringen. Jugendträume: Die Südsee. Alaska. »The Ring of Fire«. Und der rauen Süden: Patagonien, Feuerland. Schneebedeckte Gipfel der südlichen Kordilleren, dort, an der Straße des Magellan.

Und Tiere haben wir hier schließlich auch: Fliegende Fische, immer noch gejagt von verfressenen Thunfischen, und, jetzt auch über Wasser, von gierigen und geschickten Rotfußtölpeln. Die VERA scheucht die fliegenden Fische auf. Die Tölpel lauern unweit des Masttops und bei günstiger Gelegenheit setzen sie zum Sturzflug an und schnappen sich die Kandidaten. Diese wandeln die Tölpel in Dünger um, den sie bei nächster Gelegenheit gern in die Segel und auf das Deck der VERA verteilen. Ein kleiner Wal schaut vorbei. Dazu Horden von Delphinen und ein großer, fauler Schwertfisch. Fette braune Seegrasfelder liegen am Weg. Sie lassen es ratsam erscheinen, derzeit kein Meerwasser zu entsalzen. Die Filter wären bald verstopft.

Eine Menge Mikroorganismen gibt es sicher auch in dem feinen, braungelben, afrikanischen Sand, der seit den »Calima« Episoden auf den Kanaren und Kapverden das Deck, das Rigg und die Segel der VERA überzieht. Charles Darwin erwähnt eben diesen Sand in seinem sehr lesenswerten Expeditionsbericht »The Voyage of the BEAGLE« (1831 - 1836). In Porto Praya, Cabo Verde enterte er bis zum »Flögel« an der Spitze des Großmastes auf, um dort eine möglichst reine, fein gefilterte Sandprobe einzusammeln. Diese verschickte er dann zur Analyse an Prof. Christian Gottfried Ehrenberg nach Berlin, der mit Hilfe seiner Mikroskope herausfand, das Darwins Sand von »Infusoria« nur so wimmelte. Ehrenberg war es übrigens auch, der herausfand, das das Meeresleuchten von Mikroorganismen hervorgerufen wird. Helden der Aufklärung, der wir alles verdanken.

Diese allgegenwärtige Sandschicht lässt den ersten tropischen Regenschauer attraktiv erscheinen. Am dritten Tag nach dem Auslaufen aus Mindelo ist es soweit, natürlich pünktlich nach Sonnenuntergang: Eine schwarze, heulende Regenwand rollt auf uns zu. Der Wind springt ohne Übergang von Nordost auf Süd und frischt stark auf. Man sieht die Hand vor Augen nicht, was die Orientierung erschwert. Dazu ist ausgerechnet jetzt der Schalter der Kompassbeleuchtung defekt. Hastig bergen wir die Genua und starten die Maschine, um vorsichtig gegen Wind und peitschenden Regen zu motoren. Nach Mitternacht entschließen wir uns, mit kleinen Segeln hoch am Wind nach Ostsüdost zu laufen. Das scheint taktisch günstiger, als weiter nach Westen gedrängt zu werden…

Eine große Hilfe bei solchen strategischen Entscheidungen sind unsere alten, sauschweren Segelhandbücher. Die letzte aktualisierte Auflage des Atlantikführers der »Deutschen Seewarte« erschien im Jahr 1910. Im Jahre 2006 verhalf es uns schon einmal zu einer unerwartet schnellen Passage, damals von Las Palmas nach Antigua in den kleinen Antillen. Bei der damals herrschenden Großwetterlage versprach das Handbuch (zutreffenderweise) gut ausgeprägten Passat auf einer eher nördlichen und damit kürzeren Route auf dem Großkreis. Die Qualität dieser Handbücher ist ganz erstaunlich, und wohl nur damit zu erklären, das deutsche Reedereien mit ihren Großseglern vor 1900 und bis zum ersten Weltkrieg die internationale Handelsschifffahrt dominierten. Kapitäne wie Robert Hilgendorf, der »Düwel von Hamborg« hatten einen legendären Ruf. Hilgendorfs Erfahrungen mit 66 Kap Hoorn Umrundungen und sein großes Interesse für das noch junge Forschungsgebiet der Meteorologie führte zu gut und systematisch geführten Wetterdatenbanken, die bei der »Deutschen Seewarte« ausgewertet wurden. Seine Überlegungen über die Zugrichtungen der Hoch- und Tiefdrucksysteme in beiden Hemisphären führten regelmäßig zu extrem schnellen Reisen der »Flying P-Liner« der Reederei Laeisz um Kap Hoorn nach Chile und zurück. Hilgendorf selbst ersegelte mit der Fünfmastbark POTOSI ein Spitzenetmal von 376 Seemeilen, also knapp 700km in 24 Stunden. Welche Faszination noch heute in dem Thema steckt, lässt sich derzeit daran ermessen, das die Hansestadt Hamburg sich jüngst entschlossen hat, einen der wenigen noch erhaltenen »P-Liner«, die Viermastbark PEKING, das Schwesterschiff der PASSAT, zu erwerben und zu restaurieren. Hierzu brandaktuell und sehr interessant:
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/auf-hoher-see-buenger-an-bord-land-in-sicht/20015420.html

Für unsere laufende Reise »Nach der Linie« und Brasilien empfiehlt das Handbuch für den Monat August einen vergleichsweise östlich gelegenen Wegpunkt am Äquator bei 23 Grad westlicher Länge. Um diese Jahreszeit weht der Südostpassat südlich des Äquators eher frisch und mit einer ausgeprägten Südkomponente. Auf dem Weg nach Brasilien müssen wir also im weiteren Verlauf mit sportlichen Bedingungen hoch am Wind rechnen. Aber so weit sind wir noch nicht.

8 Grad Nord, 23 West. Es wird es körnig: Starkwind aus Süd. Von vorn, na klar. In Böen Sturmstärke. Hoher, völlig konfuser Seegang aus allen Richtungen. Kanaren- und Äquatorialstrom treffen in dieser Gegend ungünstig aufeinander. Regenböen, Blitze und Starkregen, die ganze Nacht. Staccato: Segel kürzen, Segel bergen, Segel setzen, Segel reffen, jetzt wenden, oder nicht? An Schlaf ist nicht zu denken. Es rächt sich jetzt, das die VERA schwer beladen ist. Oft steckt der Bug bis zum Mast in den kurzen, steilen Seen. Tonnenweise Wasser ergießen sich an Deck. Unten tropft es. Das Schiebeluk im Vorschiff, das »Tie-rod« am Mast, die vermaledeite Kettenklüse der Ankerwinsch, die Kabeldurchführungen der Positionslaternen im Bugkorb. Auf Steuerbordbug läuft das Waschbecken in der Pantry nicht mehr ab. Der Kühlschrank fällt aus. Luft im Kühlkreislauf. Das lässt sich »B&Qen«. Dann will die Meerwasserentsalzungsanlage nicht mehr, gerade als die Tanks fast leer sind. Der hohe Seegang, oder evtl. die Geschwindigkeit des Bootes erzeugen Luftblasen im System. Werden wohl demnächst beidrehen müssen, um an Trinkwasser zu gelangen. Stoa? Nicht jetzt. Immerhin: Ein großer Wal begleitet uns einige Zeit. Faszinierend. Und sonst? Mit den Resten eines griechischen Sahneyoghurts, Milchpulver und Regenwasser direkt vom Himmel kann B frisches Yoghurt machen. Schmeckt.

Tagelang prügeln wir die VERA in den folgenden Tagen gegen Wind und See gen Süden. Gut, das sie Designerlegende Olin Stephens als Weiterentwicklung seiner erfolgreichen »Admirals Cup« Yachten PROSPECT OF WHITBY (1971), SAUDADE (1973) und BATTLECRY (1975) für eben solche Bedingungen konstruiert hat. Richtig ausnutzen können wir das nicht. Sind bloß zu zweit und fahren noch immer unser uraltes Groß und dazu B’s Lieblingsgenua, den »Neunmalverfluchten Sack«. Das rächt sich jetzt ebenfalls. Das Teil ist zwar nicht tot zu kriegen, liebt es aber, das Boot aufs Ohr zu legen, und bevorzugt die Wendewinkel der »P-Liner«. Wir ackern wie die Pferde, entwickeln Schwielen an den Fingern und fühlen mit den Männern in den Rahen und an den Brassen, aber Meilen in die richtige Richtung bringt es wenige. Leider stimmt es:
»If anything's worthwhile, it's not going to be given to you on a plate.« - Alan Bond.

3 Grad Nord, gegen Mitternacht: Vollmond, jagende Wolken. Kräftiger SW, gute 5, Vollzeug, »bissl« viel. Alles ist tropfnass an Deck. Spray von überkommenden Seen. Kurs 165 Grad, magnetisch. Ich (M) stehe in Luv am Backstag und gleiche die Bocksprünge der VERA mit den Knien aus so gut es geht. Kalt ist es nicht in Äquatornähe. Wir kommen endlich voran, wenn auch unbequem. Dennoch: Irgendwie unheimlich hier. Kein einziges Schiff, seit Tagen. Reffen? Ich zögere noch. Lieber laufen lassen und versuchen, den Magen zu entspannen. Nicht an möglichen Bruch denken, sondern an etwas anderes. Gut 700 Seemeilen BB querab liegt Liberia. 85% der Bevölkerung sind Christen, die meisten davon Protestanten. Nach zwei mörderischen Bürgerkriegen regiert derzeit eine frei gewählte Friedensnobelpreisträgerin. Sie hat einiges aufzuräumen: Rekordkorruption, extrem hohe Geburtenraten, Wilderei und Raubbau an der Natur, Platz 143 von 147 im »International Gender Inequality Index«. Nach Panama ist in Liberia die größte Zahl an Handelsschiffen registriert. Ausgeflaggt: »Heimathafen« Monrovia. Dieses System erleichtert es den Schiffseignern, alle Arten von illegalen Ladungen zu transportieren und große Summen an Geld zu verstecken. Nicht gut, aber wer kann etwas dagegen tun? Ein ähnlich gelagertes Thema wie der kommerzielle Fischfang in internationalen Gewässern. Vor Tagen begegneten wir einem japanischen Hochseetrawler. Als er unser AIS Signal sah, drehte er ab und fuhr mit Höchstfahrt einige Meilen direkt von uns weg. Wollte offensichtlich nicht, das jemand sieht, was er da macht… Walfang?

Einige Tage später entlässt uns der Nordatlantik mit SE 5-6 und einem anständigen Etmal. In der Nacht zum 09.08. überqueren wir den Äquator bei 25 Grad West mit Brassfahrt, zwei Reffs im Groß und einem Schrick in den Schoten. Kurs auf Rio de Janeiro, 2000 Seemeilen (ca. 3.700 km) entfernt. Nun sollte alles einfacher werden. Der Südostpassat genießt einen guten Ruf. Falls nichts bricht, brauchen B und ich nur noch geradeaus zu fahren. Nicht das sich das derzeit allzu bequem anlässt. Einen Haushalt zu führen, der dauerhaft 20 Grad Neigung hat und dabei meterhoch auf und ab springt strengt an. Jeder Gang zur Toilette eine Zirkusnummer. Trotz der Hitze und hohen Luftfeuchtigkeit empfiehlt es sich, alle Luken geschlossen zu halten, wegen dem Spray aus den Segeln und über Deck brechenden Seen. Wer raus geht, wird nass und salzig. Das Schiff lebt. Es pfeift und orgelt im Rigg, es klappert, knackt, hämmert, vibriert und rauscht. Moitessier schrieb dazu: »Ceux qui ne savent pas qu’un voilier est un être vivant ne comprendront jamais rien à la mer.«

2 Grad Süd, SE 6, bald Mitternacht. Dort voraus: Das Kreuz des Südens, direkt vor unserem Bug. Im Lichte der Sterne und des abnehmenden Mondes jagen wir dahin. Meine Wache. Müsste reffen, oder? Das Ohr sucht nach Geräuschen, die nicht sein sollten, das Auge nach Anhaltspunkten für Probleme. Mein Magen reagiert darauf mit Anspannung. Muss ständig π. War es das, was ich wollte? Bin ich ein Angstsegler? Eine Frage, die sich Wilfried E. auch schon mal gestellt hat. B hat die besseren Nerven. Hat die Leckagen auf dem Vordeck in der Bugwelle »B&Qt« und sich dabei einen leichten Sonnenbrand auf dem Rücken zugezogen. Nun schläft sie friedlich eingerollt in unserer neuerdings verbreiterten Doppelkoje. Ich greife nach dem alten iPod und kauere mich hinter das »Sprayhood« über dem Niedergang auf dem Brückendeck, dort, wo es halbwegs trocken bleibt. Die Klänge aus dem Kopfhörer führen zurück in ein Leben, das hinter mir liegt. Und doch: In voller Lautstärke kommen die alten Hymnen und Balladen noch immer gut, und noch immer stimmt es für mich: Freiheit ist das einzige was zählt. Warum? Nur so bleibt Zeit für die großen Fragen: Warum? Woher? Wohin? Wie? Stoa? Etwas für harte Hunde. »All I ask is a comfortable home«, mein Wahlspruch. Vielleicht sollte ich mich an Epikur halten: Solange man da ist, anständig essen.

6 Grad Süd, SE 6, Kurs 215 Grad, geradewegs gen SW. Es geht voran. Aber: Seit Tagen laufen wir mit ständiger starker Krängung und mehr oder weniger dichten Schoten am Wind entlang. »Power Reaching« im Segler Jargon. Der Bug der VERA donnert in eine grobe, unangenehme See. Alles nass an Deck, heiß und stickig unter Deck. Jede Bewegung strengt an. Unsere Hände, Füße und durchgesessenen Hintern sind gut gepökelt. 400 Seemeilen STB querab die brasilianische Küste. Nach Fernando de Noronha sind es 300, nach Salvador da Bahia 700 Seemeilen. In ein paar Tagen könnten wir dort sein… Das Problem ist die Größe Brasiliens. Ein riesiges, unüberschaubares Land, nur wenig kleiner als die USA. Die brasilianische Küste in Tagesetappen hinunterbuchteln klingt attraktiv, ist für unseren Zeitplan aber unrealistisch. Die Behörden stellen ihre VISA, abgeschaut in Schengen, lediglich für drei Monate aus. Die wollen wir doch lieber irgendwo ohne Hektik genießen. Die Gedanken schweifen schon mal an einen ruhigen Ankerplatz, Kokospalmen an Land, das Zirpen der Grillen, ein gepflegtes Dinner im Kerzenschein. Das Gebiet um »Ilha Grande« sollte etwas für uns sein. Eine große, landschaftlich traumhaft schöne Bucht mit hunderten vorgelagerten Inseln und sicheren Ankerplätzen, kaum 50 Seemeilen westlich von Rio de Janeiro gelegen… Draussen ist es finster, kalt und nass, alles schwarz in schwarz. Wir segeln nun hinein in den südlichen Winter, irgendwohin ins nirgendwo. Weiterhin begegnet uns niemand, nicht einmal auf dem Großkreis zwischen der Ostküste der USA und dem Kap der guten Hoffnung. Wir sind allein. Keine Nachrichten aus der Welt, schon seit Wochen. Nur ein paar nette Grüße der Familie als Antwort auf unsere regelmäßigen Positionsmeldungen per Iridium e-mail. Wahrscheinlich steht noch alles, sonst hätte uns wohl jemand informiert.

11 Grad Süd. Der Südostpassat gönnt uns eine Ruhepause. Schon die letzte Nacht war etwas besonderes, samtig, wolkenlos, Sterne über Sternen. Der Tag dann blau in blau, kaum Wasser an Deck. Wir dürfen in Ruhe Meerwasser entsalzen, aufräumen, putzen, duschen, rasieren, Eierpfannkuchen backen, lesen, Gitarre spielen und ein paar technische Probleme lösen. Das Boot hat spürbar unter den harten Bedingungen, der Nässe und dem allgegenwärtigen Salz gelitten. Manches lässt sich mit Bordmitteln beheben. Anderes muss warten, bis wir da sind. Dazu gehört der kleine Riss im Großsegel. Er liegt an einer schwierigen, hoch belasteten Stelle, über dem ersten Reffpunkt. Ein Fall für einen gut bestückten Segelmacher. Bis auf weiteres sehen wir uns genötigt ggf. gleich im zweiten Reff zu fahren. Egal. Begreifen wir diese Reise doch als Meditation in blau. Dazu passt ein neuer Walbesuch zum Dinner: Der gut 15 Meter lange Besucher prustet eine Zeitlang keine Bootslänge entfernt neben uns her. Seine (oder ihre?) Bewegungen sind lang, kraftvoll und elegant, ein müheloses Schweben. Leider können wir ihn wieder nicht bestimmen. Hoffentlich will er nicht spielen.

13 Grad Süd. Ein heftiger Squall, wie immer im Morgengrauen. Meditation? Es hämmert aus SSW, gute 6-7 und regnet in Strömen. Gröbster Seegang auf einer enormen Dünung aus dem Südmeer. Alles nirgendwo angesagt. Selbst unter dichtgeknalltem Kutter und doppelt gerefftem Groß können wir nichts besseres tun, als zähneknirschend gen WSW zu stochern. Zum kotzen. Bohren wir uns jetzt ungespitzt in das brasilianische Festland? Wieder weiß der Atlantikführer der »Deutschen Seewarte« Rat: Nerven behalten, »voll und bei« steuern, solche Episoden gehen vorbei. Ein Wegpunkt bei 20 Grad Süd und 36 Grad West sollte später immer drin sein. Und dann bei raumenden Winden in aller Ruhe Kurs auf »Cabo Frio« nehmen. Schon merkwürdig, wie beruhigend, hilfreich und brandaktuell diese Texte auf uns wirken. Die Verfasser sind längst nicht mehr, aber sie behalten recht: 12 Stunden später springt der Wind zurück und raumt weiter, die Sonne zeigt sich in einem stahlblauen Himmel, und erstmals fahren wir mit halbem Wind direkt auf unser Ziel zu. Traumhaftes, kontemplatives segeln jetzt. Finden wir auf den letzten 1000 Seemeilen doch noch in eine selbstverständliche Bordroutine, die sich bisher wegen der harten und ständig wechselnden Bedingungen nicht einstellen wollte?

18 Grad Süd, SE 4-5. Seit Tagen ein bequemes, gemächliches Fortkommen bei herrlich kühlem und sonnigem Wetter in einer langen, souveränen Atlantikdünung. Wir genießen es, lesen viel, kochen gut und sind recht faul. Ankommen bräuchten wir eigentlich so bald nicht. Da ist es: Das Gefühl, das alles gut ist hier an Bord. Nachtwache: Sterne über Sternen. Wir folgen der Milchstraße zum Kreuz des Südens, das mit jedem Tag höher steigt. »Crux«? Kein wirklich schöner Name für so ein herrliches Sternbild. »Kite«, Drachen, würde eher passen. Die Konstellation hängt dort am Ende der Milchstraße, wie ein munterer Papierdrachen an einer mit Alpha und Beta Centauri geschmückten Leine.

22 Grad Süd. Wir nähern uns der brasilianische Küste in spitzem Winkel. Keine 250 Seemeilen mehr bis Rio de Janeiro, 300 bis Ilha Grande. Alles wäre bestens, wenn unsere per Iridium heruntergeladenen Wetterdaten die aus SW herannahende Sturmfront nicht zeigen würden. Die Möglichkeiten zum auskneifen sind begrenzt: Der Hafen von Vitória liegt 120 Seemeilen STB querab. Umweg, Bürokratie, Dieselverbrauch, Reibungsverluste. Wir können uns dazu nicht durchringen. Blieben die gut geschützten Ankerplätze am Cabo Frio. Leider erreichen wir die wohl nicht mehr rechtzeitig.

NE 6-7 jetzt. Das Biest atmet ein. Platt vor dem Wind rauschen wir tief gerefft durch eine schwarze, schaurige Nacht. Regenböen und abrupten Winddreher. Zwischen uns und der Küste liegt das über 130 Seemeilen lange, für uns verbotene »Campos Oilfield« mit hunderten Bohrinseln, Mooringtonnen und Versorgungsschiffen. Daran müssen wir vorbei, bevor der Wind dreht. Falls das nichts wird, wären wir gezwungen beizudrehen, oder nach NE abzulaufen, also in die Richtung, aus der wir gekommen sind… Der inzwischen zunehmende Schiffsverkehr bringt zusätzliche Arbeit für den Wachhabenden. Dank AIS (»Automatic identification system«) können wir auf unserem Kartenplotter einige Informationen über die meisten Schiffe abrufen: Die Länge und Tonnage zum Beispiel, der Heimathafen, der Zielhafen. Wichtig für uns ist vor allem die Distanz mit der sie uns wo passieren werden. Davon ausgehend können wir entscheiden, ggf. selber den Kurs zu ändern, oder das betreffende Schiff per UKW Funk auf uns aufmerksam zu machen. Seit über 100 Jahren haben Segelschiffe wegen ihrer begrenzten Manövrierfähigkeit Vorfahrt vor Dampfern. Nicht zuletzt deshalb passiert man uns fast immer in sicherem Abstand. Die Wachhabenden sehen ja neben dem Radarecho auch unser AIS Signal auf ihrem Bildschirm. Einen Haken hat die Sache aber doch: Nicht alle Schiffe fahren ein aktives AIS. Gerade Fischer mögen es nicht, gesehen werden. Siehe oben. Es bleibt nichts anderes übrig, als alle 15 Minuten einen Blick in die Runde zu werfen.

24 Stunden später, 23 Grad Süd. Wir haben das »Campos Oilfield« passiert und stehen inzwischen sogar ein halbes Grad südlich von Rio de Janeiro. Noch immer weht es hart aus NE. Stärke 8, Regen, überkommende Brecher, zum Glück von achtern. Der Seegang ist furchterregend. Unseren in weiser Voraussicht vorgekochten Linseneintopf löffeln wir auf dem Salonboden sitzend. Draussen ist die Hölle los. Leider nur das »Horsd’oeuvre«. Das GRIB verspricht eine kurze Flaute bei Tagesanbruch und dann kommt der Hauptgang: SW, später S in Sturmstärke, genau aus der Gegenrichtung des jetzigen NE. Was das mit dem Seegang anstellen wird, malen wir uns lieber nicht aus. Wir werden versuchen, etwas »Seeraum« zu behalten, um länger in tieferem Wasser zu bleiben. Wünscht uns Glück.

Das Problem am segeln ist das segeln. Ein Tag, an dem es nicht Tag werden will. Wir stecken drin. SSW Stärke 8. Der Windmesser hat es sich bei über 40 Knoten bequem gemacht. Es ist, für unsere Verhältnisse, bitterkalt. Unter kleinsten Segeln und mit dichten Schoten jagt die VERA an der uns unbekannten brasilianischen Küste entlang. Der Winddreher kam früh, zu früh, um »Seeraum« auf Vorrat zu schaffen. Was wir haben, wird reichen müssen. Ein infernalischer, zeitweise gefährlicher Seegang prügelt uns grün und blau. Immerhin: Die Einfahrt nach Ilha Grande können wir so gerade anliegen. Wenn nichts bricht, sind wir morgen Abend dort, wenn auch gut geduscht. Ein Gedanke, der für etwas Licht sorgt an diesem finsteren Tag. Und: Land in Sicht. Erstmals seit 23 Tagen. Cabo Frio Steuerbord querab, gerade so auszumachen in der drohend verhangenen Abenddämmerung. Nachtwache, drei Uhr: Nieselregen, aber die Front ist durch. Es raumt. Nur noch mit zwanzig Knoten aus Süd, nachlassender Seegang. Der Lichtschein der Millionenmetropole Rio de Janeiro beeindruckt an STB voraus. Es zieht uns nicht dorthin.

Tagesanbruch. Es bleibt grau in grau, aber die Sicht bessert sich: Riesige, elegante Fregattvögel kreisen über uns und winken uns ein. Und dort: Der leibhaftige Zuckerhut Steuerbord querab. Die letzten Meilen: Voraus die Einfahrt zur großen Bucht von »Ilha Grande«. Flaute jetzt, alte Welle, der Motor läuft. Wir nutzen den Strom zum Wasser entsalzen und das viele Frischwasser zum entsalzen, zum putzen, spülen und duschen. Wir wollen doch »shipshape« sein, zur Ankunft.

Gegen Abend, bei auffrischendem NE passieren wir die Einfahrt und biegen links in die viel gepriesene »Enseada das Palmas«, eine Bucht, die heute Abend auf den ersten Blick wenig einladend wirkt. Es ist kalt, regnerisch und ein unangenehmer Schwell läuft direkt hinein. Eine wohlverdiente ruhige Nacht? Wollen mal sehen: Dort drüben hinter dem winzigen, palmenbestandenen Inselchen könnte es gehen… Wir werfen Anker, klaren auf und sehen uns um. Es riecht erdig. Hinter uns liegt die Hauptinsel, die »Ilha Grande«, dicht mit tropischem Regenwald bedeckt. Am goldgelben Strand an STB steht eine Villa auf einem Anwesen, das an Schönheit nicht zu übertreffen ist. Hohe, kugelige Granitfelsen ragen aus dem goldgelben Sand. Ein paar Meter höher der Saum des dichten Dschungels. Das Haus selbst ist erst richtig zu sehen als es dunkel wird. Geschmackvolle, warme Lichtinseln zwischen Wald und Felsen. Der Wald erwacht zum Leben. Es muss dort reichlich Affen geben und anderes Getier. B und ich setzen uns, bekleidet mit Faserpelzen und Daunenjacken, aufs Brückendeck und genießen ein paar »Tapas« mit einem anständigen Gin Tonic. Wir haben es geschafft. Morgen früh segeln wir die 15 Seemeilen nach »Angra dos Reis«, eine nahe gelegene Kleinstadt, zum offiziellen einklarieren nach Brasilien. Ab in die Koje.

Herzliche Grüße an Alle von B und M / SY VERA / Angra dos Reis / Ilha Grande / Brasilien



1 - In den Doldrums.
Doldrums

2 - Seegrasfelder auf 8 Grad Nord.
Seegrasfelder

3 - Regenböen voraus.
Ein Squall

4 - Die alten Segelhandbücher der »Deutschen Seewarte«…
Segelhandbuch

5 - …sind für uns noch heute aktuell. Wir wollen schließlich auch »Nach der Linie«.
Nach der Linie

6 - Buckelpiste.
Buckelpiste

7 - Herrliche Eierkuchen.
Eierkuchen

8 - Nur ein paar Wochen.
Ein Film von B+M.


9 - Die Situation am 21. August gegen 09.00 UTC, bei Tagesanbruch. Rechts oben das »Campos Oilfield«.
Kaltfront

10 - Spielball der Elemente. Noch ein Film von B+M.


11 - Wir sind da.
Wir sind da

12 - Die Route von den Kanarischen Inseln nach Brasilien.
Die Route nach Brasilien