SY VERA

Into the screaming 50th: A voyage to Tierra del Fuego and Cape Horn

023 - DURCH DIE DOLDRUMS »NACH DER LINIE« UND WEITER BIS BRASILIEN

Hallo Ihr Lieben!

Die Sonne brennt am Mittag senkrecht aufs Deck, die Füße glühen. Unter Deck ist es kaum besser: 35 Grad und mehr, Luftfeuchtigkeit 100%, der Schweiss rinnt in Strömen. Trotz harter Arbeit mit den Segeln kommen wir nur langsam voran. Wir stehen in der Flaute. Gerade 100 Seemeilen südlich der Kapverdischen Inseln haben wir die »Intertropische Konvergenzzone« erreicht. Kaum Wind in dieser Gegend, egal, ob man sie nun Kalmengürtel, Mallungen oder Doldrums nennt. Durch das Fehlen der Corioliskraft in Äquatornähe wissen die Luftdrucksysteme nicht so recht, in welche Richtung sie sich drehen sollen. Das kostet Nerven. Ein Buch über die »Stoa« sollte mir (M) eigentlich dabei helfen, den Magen und den Schultergürtel zu entspannen. Allein, es fällt mir schwer. Das selbstzerstörerische klappern der beinahe wirkungslosen Segel im Rigg tut weh. Die ersten Tage auf See sind die anstrengenden.

500 Seemeilen östlich liegt die Hafenstadt Dakar im Senegal. Nur wenig südlich die Republik Gambia. Der Gambia Fluss gilt, trotz gewisser politischer Turbulenzen (seit 2015 »Islamische Republik«), als Traumziel für Fahrtensegler, und wird in den informativeren Blogs überwiegend positiv besprochen: Weltoffene, freundliche Menschen, dazu Löwen, Hyänen, Schimpansen, Krokodile und Flusspferde. Wir sollten uns also im Prinzip mal dort umsehen. Aber: Man kann seine Zeit nur einmal verbringen. Jugendträume: Die Südsee. Alaska. »The Ring of Fire«. Und der rauen Süden: Patagonien, Feuerland. Schneebedeckte Gipfel der südlichen Kordilleren, dort, an der Straße des Magellan.

Und Tiere haben wir hier schließlich auch: Fliegende Fische, immer noch gejagt von verfressenen Thunfischen, und, jetzt auch über Wasser, von gierigen und geschickten Rotfußtölpeln. Die VERA scheucht die fliegenden Fische auf. Die Tölpel lauern unweit des Masttops und bei günstiger Gelegenheit setzen sie zum Sturzflug an und schnappen sich die Kandidaten. Diese wandeln die Tölpel in Dünger um, den sie bei nächster Gelegenheit gern in die Segel und auf das Deck der VERA verteilen. Ein kleiner Wal schaut vorbei. Dazu Horden von Delphinen und ein großer, fauler Schwertfisch. Fette braune Seegrasfelder liegen am Weg. Sie lassen es ratsam erscheinen, derzeit kein Meerwasser zu entsalzen. Die Filter wären bald verstopft.

Eine Menge Mikroorganismen gibt es sicher auch in dem feinen, braungelben, afrikanischen Sand, der seit den »Calima« Episoden auf den Kanaren und Kapverden das Deck, das Rigg und die Segel der VERA überzieht. Charles Darwin erwähnt eben diesen Sand in seinem sehr lesenswerten Expeditionsbericht »The Voyage of the BEAGLE« (1831 - 1836). In Porto Praya, Cabo Verde enterte er bis zum »Flögel« an der Spitze des Großmastes auf, um dort eine möglichst reine, fein gefilterte Sandprobe einzusammeln. Diese verschickte er dann zur Analyse an Prof. Christian Gottfried Ehrenberg nach Berlin, der mit Hilfe seiner Mikroskope herausfand, das Darwins Sand von »Infusoria« nur so wimmelte. Ehrenberg war es übrigens auch, der herausfand, das das Meeresleuchten von Mikroorganismen hervorgerufen wird. Helden der Aufklärung, der wir alles verdanken.

Diese allgegenwärtige Sandschicht lässt den ersten tropischen Regenschauer attraktiv erscheinen. Am dritten Tag nach dem Auslaufen aus Mindelo ist es soweit, natürlich pünktlich nach Sonnenuntergang: Eine schwarze, heulende Regenwand rollt auf uns zu. Der Wind springt ohne Übergang von Nordost auf Süd und frischt stark auf. Man sieht die Hand vor Augen nicht, was die Orientierung erschwert. Dazu ist ausgerechnet jetzt der Schalter der Kompassbeleuchtung defekt. Hastig bergen wir die Genua und starten die Maschine, um vorsichtig gegen Wind und peitschenden Regen zu motoren. Nach Mitternacht entschließen wir uns, mit kleinen Segeln hoch am Wind nach Ostsüdost zu laufen. Das scheint taktisch günstiger, als weiter nach Westen gedrängt zu werden…

Eine große Hilfe bei solchen strategischen Entscheidungen sind unsere alten, sauschweren Segelhandbücher. Die letzte aktualisierte Auflage des Atlantikführers der »Deutschen Seewarte« erschien im Jahr 1910. Im Jahre 2006 verhalf es uns schon einmal zu einer unerwartet schnellen Passage, damals von Las Palmas nach Antigua in den kleinen Antillen. Bei der damals herrschenden Großwetterlage versprach das Handbuch (zutreffenderweise) gut ausgeprägten Passat auf einer eher nördlichen und damit kürzeren Route auf dem Großkreis. Die Qualität dieser Handbücher ist ganz erstaunlich, und wohl nur damit zu erklären, das deutsche Reedereien mit ihren Großseglern vor 1900 und bis zum ersten Weltkrieg die internationale Handelsschifffahrt dominierten. Kapitäne wie Robert Hilgendorf, der »Düwel von Hamborg« hatten einen legendären Ruf. Hilgendorfs Erfahrungen mit 66 Kap Hoorn Umrundungen und sein großes Interesse für das noch junge Forschungsgebiet der Meteorologie führte zu gut und systematisch geführten Wetterdatenbanken, die bei der »Deutschen Seewarte« ausgewertet wurden. Seine Überlegungen über die Zugrichtungen der Hoch- und Tiefdrucksysteme in beiden Hemisphären führten regelmäßig zu extrem schnellen Reisen der »Flying P-Liner« der Reederei Laeisz um Kap Hoorn nach Chile und zurück. Hilgendorf selbst ersegelte mit der Fünfmastbark POTOSI ein Spitzenetmal von 376 Seemeilen, also knapp 700km in 24 Stunden. Welche Faszination noch heute in dem Thema steckt, lässt sich derzeit daran ermessen, das die Hansestadt Hamburg sich jüngst entschlossen hat, einen der wenigen noch erhaltenen »P-Liner«, die Viermastbark PEKING, das Schwesterschiff der PASSAT, zu erwerben und zu restaurieren. Hierzu brandaktuell und sehr interessant:
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/auf-hoher-see-buenger-an-bord-land-in-sicht/20015420.html

Für unsere laufende Reise »Nach der Linie« und Brasilien empfiehlt das Handbuch für den Monat August einen vergleichsweise östlich gelegenen Wegpunkt am Äquator bei 23 Grad westlicher Länge. Um diese Jahreszeit weht der Südostpassat südlich des Äquators eher frisch und mit einer ausgeprägten Südkomponente. Auf dem Weg nach Brasilien müssen wir also im weiteren Verlauf mit sportlichen Bedingungen hoch am Wind rechnen. Aber so weit sind wir noch nicht.

8 Grad Nord, 23 West. Es wird es körnig: Starkwind aus Süd. Von vorn, na klar. In Böen Sturmstärke. Hoher, völlig konfuser Seegang aus allen Richtungen. Kanaren- und Äquatorialstrom treffen in dieser Gegend ungünstig aufeinander. Regenböen, Blitze und Starkregen, die ganze Nacht. Staccato: Segel kürzen, Segel bergen, Segel setzen, Segel reffen, jetzt wenden, oder nicht? An Schlaf ist nicht zu denken. Es rächt sich jetzt, das die VERA schwer beladen ist. Oft steckt der Bug bis zum Mast in den kurzen, steilen Seen. Tonnenweise Wasser ergießen sich an Deck. Unten tropft es. Das Schiebeluk im Vorschiff, das »Tie-rod« am Mast, die vermaledeite Kettenklüse der Ankerwinsch, die Kabeldurchführungen der Positionslaternen im Bugkorb. Auf Steuerbordbug läuft das Waschbecken in der Pantry nicht mehr ab. Der Kühlschrank fällt aus. Luft im Kühlkreislauf. Das lässt sich »B&Qen«. Dann will die Meerwasserentsalzungsanlage nicht mehr, gerade als die Tanks fast leer sind. Der hohe Seegang, oder evtl. die Geschwindigkeit des Bootes erzeugen Luftblasen im System. Werden wohl demnächst beidrehen müssen, um an Trinkwasser zu gelangen. Stoa? Nicht jetzt. Immerhin: Ein großer Wal begleitet uns einige Zeit. Faszinierend. Und sonst? Mit den Resten eines griechischen Sahneyoghurts, Milchpulver und Regenwasser direkt vom Himmel kann B frisches Yoghurt machen. Schmeckt.

Tagelang prügeln wir die VERA in den folgenden Tagen gegen Wind und See gen Süden. Gut, das sie Designerlegende Olin Stephens als Weiterentwicklung seiner erfolgreichen »Admirals Cup« Yachten PROSPECT OF WHITBY (1971), SAUDADE (1973) und BATTLECRY (1975) für eben solche Bedingungen konstruiert hat. Richtig ausnutzen können wir das nicht. Sind bloß zu zweit und fahren noch immer unser uraltes Groß und dazu B’s Lieblingsgenua, den »Neunmalverfluchten Sack«. Das rächt sich jetzt ebenfalls. Das Teil ist zwar nicht tot zu kriegen, liebt es aber, das Boot aufs Ohr zu legen, und bevorzugt die Wendewinkel der »P-Liner«. Wir ackern wie die Pferde, entwickeln Schwielen an den Fingern und fühlen mit den Männern in den Rahen und an den Brassen, aber Meilen in die richtige Richtung bringt es wenige. Leider stimmt es:
»If anything's worthwhile, it's not going to be given to you on a plate.« - Alan Bond.

3 Grad Nord, gegen Mitternacht: Vollmond, jagende Wolken. Kräftiger SW, gute 5, Vollzeug, »bissl« viel. Alles ist tropfnass an Deck. Spray von überkommenden Seen. Kurs 165 Grad, magnetisch. Ich (M) stehe in Luv am Backstag und gleiche die Bocksprünge der VERA mit den Knien aus so gut es geht. Kalt ist es nicht in Äquatornähe. Wir kommen endlich voran, wenn auch unbequem. Dennoch: Irgendwie unheimlich hier. Kein einziges Schiff, seit Tagen. Reffen? Ich zögere noch. Lieber laufen lassen und versuchen, den Magen zu entspannen. Nicht an möglichen Bruch denken, sondern an etwas anderes. Gut 700 Seemeilen BB querab liegt Liberia. 85% der Bevölkerung sind Christen, die meisten davon Protestanten. Nach zwei mörderischen Bürgerkriegen regiert derzeit eine frei gewählte Friedensnobelpreisträgerin. Sie hat einiges aufzuräumen: Rekordkorruption, extrem hohe Geburtenraten, Wilderei und Raubbau an der Natur, Platz 143 von 147 im »International Gender Inequality Index«. Nach Panama ist in Liberia die größte Zahl an Handelsschiffen registriert. Ausgeflaggt: »Heimathafen« Monrovia. Dieses System erleichtert es den Schiffseignern, alle Arten von illegalen Ladungen zu transportieren und große Summen an Geld zu verstecken. Nicht gut, aber wer kann etwas dagegen tun? Ein ähnlich gelagertes Thema wie der kommerzielle Fischfang in internationalen Gewässern. Vor Tagen begegneten wir einem japanischen Hochseetrawler. Als er unser AIS Signal sah, drehte er ab und fuhr mit Höchstfahrt einige Meilen direkt von uns weg. Wollte offensichtlich nicht, das jemand sieht, was er da macht… Walfang?

Einige Tage später entlässt uns der Nordatlantik mit SE 5-6 und einem anständigen Etmal. In der Nacht zum 09.08. überqueren wir den Äquator bei 25 Grad West mit Brassfahrt, zwei Reffs im Groß und einem Schrick in den Schoten. Kurs auf Rio de Janeiro, 2000 Seemeilen (ca. 3.700 km) entfernt. Nun sollte alles einfacher werden. Der Südostpassat genießt einen guten Ruf. Falls nichts bricht, brauchen B und ich nur noch geradeaus zu fahren. Nicht das sich das derzeit allzu bequem anlässt. Einen Haushalt zu führen, der dauerhaft 20 Grad Neigung hat und dabei meterhoch auf und ab springt strengt an. Jeder Gang zur Toilette eine Zirkusnummer. Trotz der Hitze und hohen Luftfeuchtigkeit empfiehlt es sich, alle Luken geschlossen zu halten, wegen dem Spray aus den Segeln und über Deck brechenden Seen. Wer raus geht, wird nass und salzig. Das Schiff lebt. Es pfeift und orgelt im Rigg, es klappert, knackt, hämmert, vibriert und rauscht. Moitessier schrieb dazu: »Ceux qui ne savent pas qu’un voilier est un être vivant ne comprendront jamais rien à la mer.«

2 Grad Süd, SE 6, bald Mitternacht. Dort voraus: Das Kreuz des Südens, direkt vor unserem Bug. Im Lichte der Sterne und des abnehmenden Mondes jagen wir dahin. Meine Wache. Müsste reffen, oder? Das Ohr sucht nach Geräuschen, die nicht sein sollten, das Auge nach Anhaltspunkten für Probleme. Mein Magen reagiert darauf mit Anspannung. Muss ständig π. War es das, was ich wollte? Bin ich ein Angstsegler? Eine Frage, die sich Wilfried E. auch schon mal gestellt hat. B hat die besseren Nerven. Hat die Leckagen auf dem Vordeck in der Bugwelle »B&Qt« und sich dabei einen leichten Sonnenbrand auf dem Rücken zugezogen. Nun schläft sie friedlich eingerollt in unserer neuerdings verbreiterten Doppelkoje. Ich greife nach dem alten iPod und kauere mich hinter das »Sprayhood« über dem Niedergang auf dem Brückendeck, dort, wo es halbwegs trocken bleibt. Die Klänge aus dem Kopfhörer führen zurück in ein Leben, das hinter mir liegt. Und doch: In voller Lautstärke kommen die alten Hymnen und Balladen noch immer gut, und noch immer stimmt es für mich: Freiheit ist das einzige was zählt. Warum? Nur so bleibt Zeit für die großen Fragen: Warum? Woher? Wohin? Wie? Stoa? Etwas für harte Hunde. »All I ask is a comfortable home«, mein Wahlspruch. Vielleicht sollte ich mich an Epikur halten: Solange man da ist, anständig essen.

6 Grad Süd, SE 6, Kurs 215 Grad, geradewegs gen SW. Es geht voran. Aber: Seit Tagen laufen wir mit ständiger starker Krängung und mehr oder weniger dichten Schoten am Wind entlang. »Power Reaching« im Segler Jargon. Der Bug der VERA donnert in eine grobe, unangenehme See. Alles nass an Deck, heiß und stickig unter Deck. Jede Bewegung strengt an. Unsere Hände, Füße und durchgesessenen Hintern sind gut gepökelt. 400 Seemeilen STB querab die brasilianische Küste. Nach Fernando de Noronha sind es 300, nach Salvador da Bahia 700 Seemeilen. In ein paar Tagen könnten wir dort sein… Das Problem ist die Größe Brasiliens. Ein riesiges, unüberschaubares Land, nur wenig kleiner als die USA. Die brasilianische Küste in Tagesetappen hinunterbuchteln klingt attraktiv, ist für unseren Zeitplan aber unrealistisch. Die Behörden stellen ihre VISA, abgeschaut in Schengen, lediglich für drei Monate aus. Die wollen wir doch lieber irgendwo ohne Hektik genießen. Die Gedanken schweifen schon mal an einen ruhigen Ankerplatz, Kokospalmen an Land, das Zirpen der Grillen, ein gepflegtes Dinner im Kerzenschein. Das Gebiet um »Ilha Grande« sollte etwas für uns sein. Eine große, landschaftlich traumhaft schöne Bucht mit hunderten vorgelagerten Inseln und sicheren Ankerplätzen, kaum 50 Seemeilen westlich von Rio de Janeiro gelegen… Draussen ist es finster, kalt und nass, alles schwarz in schwarz. Wir segeln nun hinein in den südlichen Winter, irgendwohin ins nirgendwo. Weiterhin begegnet uns niemand, nicht einmal auf dem Großkreis zwischen der Ostküste der USA und dem Kap der guten Hoffnung. Wir sind allein. Keine Nachrichten aus der Welt, schon seit Wochen. Nur ein paar nette Grüße der Familie als Antwort auf unsere regelmäßigen Positionsmeldungen per Iridium e-mail. Wahrscheinlich steht noch alles, sonst hätte uns wohl jemand informiert.

11 Grad Süd. Der Südostpassat gönnt uns eine Ruhepause. Schon die letzte Nacht war etwas besonderes, samtig, wolkenlos, Sterne über Sternen. Der Tag dann blau in blau, kaum Wasser an Deck. Wir dürfen in Ruhe Meerwasser entsalzen, aufräumen, putzen, duschen, rasieren, Eierpfannkuchen backen, lesen, Gitarre spielen und ein paar technische Probleme lösen. Das Boot hat spürbar unter den harten Bedingungen, der Nässe und dem allgegenwärtigen Salz gelitten. Manches lässt sich mit Bordmitteln beheben. Anderes muss warten, bis wir da sind. Dazu gehört der kleine Riss im Großsegel. Er liegt an einer schwierigen, hoch belasteten Stelle, über dem ersten Reffpunkt. Ein Fall für einen gut bestückten Segelmacher. Bis auf weiteres sehen wir uns genötigt ggf. gleich im zweiten Reff zu fahren. Egal. Begreifen wir diese Reise doch als Meditation in blau. Dazu passt ein neuer Walbesuch zum Dinner: Der gut 15 Meter lange Besucher prustet eine Zeitlang keine Bootslänge entfernt neben uns her. Seine (oder ihre?) Bewegungen sind lang, kraftvoll und elegant, ein müheloses Schweben. Leider können wir ihn wieder nicht bestimmen. Hoffentlich will er nicht spielen.

13 Grad Süd. Ein heftiger Squall, wie immer im Morgengrauen. Meditation? Es hämmert aus SSW, gute 6-7 und regnet in Strömen. Gröbster Seegang auf einer enormen Dünung aus dem Südmeer. Alles nirgendwo angesagt. Selbst unter dichtgeknalltem Kutter und doppelt gerefftem Groß können wir nichts besseres tun, als zähneknirschend gen WSW zu stochern. Zum kotzen. Bohren wir uns jetzt ungespitzt in das brasilianische Festland? Wieder weiß der Atlantikführer der »Deutschen Seewarte« Rat: Nerven behalten, »voll und bei« steuern, solche Episoden gehen vorbei. Ein Wegpunkt bei 20 Grad Süd und 36 Grad West sollte später immer drin sein. Und dann bei raumenden Winden in aller Ruhe Kurs auf »Cabo Frio« nehmen. Schon merkwürdig, wie beruhigend, hilfreich und brandaktuell diese Texte auf uns wirken. Die Verfasser sind längst nicht mehr, aber sie behalten recht: 12 Stunden später springt der Wind zurück und raumt weiter, die Sonne zeigt sich in einem stahlblauen Himmel, und erstmals fahren wir mit halbem Wind direkt auf unser Ziel zu. Traumhaftes, kontemplatives segeln jetzt. Finden wir auf den letzten 1000 Seemeilen doch noch in eine selbstverständliche Bordroutine, die sich bisher wegen der harten und ständig wechselnden Bedingungen nicht einstellen wollte?

18 Grad Süd, SE 4-5. Seit Tagen ein bequemes, gemächliches Fortkommen bei herrlich kühlem und sonnigem Wetter in einer langen, souveränen Atlantikdünung. Wir genießen es, lesen viel, kochen gut und sind recht faul. Ankommen bräuchten wir eigentlich so bald nicht. Da ist es: Das Gefühl, das alles gut ist hier an Bord. Nachtwache: Sterne über Sternen. Wir folgen der Milchstraße zum Kreuz des Südens, das mit jedem Tag höher steigt. »Crux«? Kein wirklich schöner Name für so ein herrliches Sternbild. »Kite«, Drachen, würde eher passen. Die Konstellation hängt dort am Ende der Milchstraße, wie ein munterer Papierdrachen an einer mit Alpha und Beta Centauri geschmückten Leine.

22 Grad Süd. Wir nähern uns der brasilianische Küste in spitzem Winkel. Keine 250 Seemeilen mehr bis Rio de Janeiro, 300 bis Ilha Grande. Alles wäre bestens, wenn unsere per Iridium heruntergeladenen Wetterdaten die aus SW herannahende Sturmfront nicht zeigen würden. Die Möglichkeiten zum auskneifen sind begrenzt: Der Hafen von Vitória liegt 120 Seemeilen STB querab. Umweg, Bürokratie, Dieselverbrauch, Reibungsverluste. Wir können uns dazu nicht durchringen. Blieben die gut geschützten Ankerplätze am Cabo Frio. Leider erreichen wir die wohl nicht mehr rechtzeitig.

NE 6-7 jetzt. Das Biest atmet ein. Platt vor dem Wind rauschen wir tief gerefft durch eine schwarze, schaurige Nacht. Regenböen und abrupten Winddreher. Zwischen uns und der Küste liegt das über 130 Seemeilen lange, für uns verbotene »Campos Oilfield« mit hunderten Bohrinseln, Mooringtonnen und Versorgungsschiffen. Daran müssen wir vorbei, bevor der Wind dreht. Falls das nichts wird, wären wir gezwungen beizudrehen, oder nach NE abzulaufen, also in die Richtung, aus der wir gekommen sind… Der inzwischen zunehmende Schiffsverkehr bringt zusätzliche Arbeit für den Wachhabenden. Dank AIS (»Automatic identification system«) können wir auf unserem Kartenplotter einige Informationen über die meisten Schiffe abrufen: Die Länge und Tonnage zum Beispiel, der Heimathafen, der Zielhafen. Wichtig für uns ist vor allem die Distanz mit der sie uns wo passieren werden. Davon ausgehend können wir entscheiden, ggf. selber den Kurs zu ändern, oder das betreffende Schiff per UKW Funk auf uns aufmerksam zu machen. Seit über 100 Jahren haben Segelschiffe wegen ihrer begrenzten Manövrierfähigkeit Vorfahrt vor Dampfern. Nicht zuletzt deshalb passiert man uns fast immer in sicherem Abstand. Die Wachhabenden sehen ja neben dem Radarecho auch unser AIS Signal auf ihrem Bildschirm. Einen Haken hat die Sache aber doch: Nicht alle Schiffe fahren ein aktives AIS. Gerade Fischer mögen es nicht, gesehen werden. Siehe oben. Es bleibt nichts anderes übrig, als alle 15 Minuten einen Blick in die Runde zu werfen.

24 Stunden später, 23 Grad Süd. Wir haben das »Campos Oilfield« passiert und stehen inzwischen sogar ein halbes Grad südlich von Rio de Janeiro. Noch immer weht es hart aus NE. Stärke 8, Regen, überkommende Brecher, zum Glück von achtern. Der Seegang ist furchterregend. Unseren in weiser Voraussicht vorgekochten Linseneintopf löffeln wir auf dem Salonboden sitzend. Draussen ist die Hölle los. Leider nur das »Horsd’oeuvre«. Das GRIB verspricht eine kurze Flaute bei Tagesanbruch und dann kommt der Hauptgang: SW, später S in Sturmstärke, genau aus der Gegenrichtung des jetzigen NE. Was das mit dem Seegang anstellen wird, malen wir uns lieber nicht aus. Wir werden versuchen, etwas »Seeraum« zu behalten, um länger in tieferem Wasser zu bleiben. Wünscht uns Glück.

Das Problem am segeln ist das segeln. Ein Tag, an dem es nicht Tag werden will. Wir stecken drin. SSW Stärke 8. Der Windmesser hat es sich bei über 40 Knoten bequem gemacht. Es ist, für unsere Verhältnisse, bitterkalt. Unter kleinsten Segeln und mit dichten Schoten jagt die VERA an der uns unbekannten brasilianischen Küste entlang. Der Winddreher kam früh, zu früh, um »Seeraum« auf Vorrat zu schaffen. Was wir haben, wird reichen müssen. Ein infernalischer, zeitweise gefährlicher Seegang prügelt uns grün und blau. Immerhin: Die Einfahrt nach Ilha Grande können wir so gerade anliegen. Wenn nichts bricht, sind wir morgen Abend dort, wenn auch gut geduscht. Ein Gedanke, der für etwas Licht sorgt an diesem finsteren Tag. Und: Land in Sicht. Erstmals seit 23 Tagen. Cabo Frio Steuerbord querab, gerade so auszumachen in der drohend verhangenen Abenddämmerung. Nachtwache, drei Uhr: Nieselregen, aber die Front ist durch. Es raumt. Nur noch mit zwanzig Knoten aus Süd, nachlassender Seegang. Der Lichtschein der Millionenmetropole Rio de Janeiro beeindruckt an STB voraus. Es zieht uns nicht dorthin.

Tagesanbruch. Es bleibt grau in grau, aber die Sicht bessert sich: Riesige, elegante Fregattvögel kreisen über uns und winken uns ein. Und dort: Der leibhaftige Zuckerhut Steuerbord querab. Die letzten Meilen: Voraus die Einfahrt zur großen Bucht von »Ilha Grande«. Flaute jetzt, alte Welle, der Motor läuft. Wir nutzen den Strom zum Wasser entsalzen und das viele Frischwasser zum entsalzen, zum putzen, spülen und duschen. Wir wollen doch »shipshape« sein, zur Ankunft.

Gegen Abend, bei auffrischendem NE passieren wir die Einfahrt und biegen links in die viel gepriesene »Enseada das Palmas«, eine Bucht, die heute Abend auf den ersten Blick wenig einladend wirkt. Es ist kalt, regnerisch und ein unangenehmer Schwell läuft direkt hinein. Eine wohlverdiente ruhige Nacht? Wollen mal sehen: Dort drüben hinter dem winzigen, palmenbestandenen Inselchen könnte es gehen… Wir werfen Anker, klaren auf und sehen uns um. Es riecht erdig. Hinter uns liegt die Hauptinsel, die »Ilha Grande«, dicht mit tropischem Regenwald bedeckt. Am goldgelben Strand an STB steht eine Villa auf einem Anwesen, das an Schönheit nicht zu übertreffen ist. Hohe, kugelige Granitfelsen ragen aus dem goldgelben Sand. Ein paar Meter höher der Saum des dichten Dschungels. Das Haus selbst ist erst richtig zu sehen als es dunkel wird. Geschmackvolle, warme Lichtinseln zwischen Wald und Felsen. Der Wald erwacht zum Leben. Es muss dort reichlich Affen geben und anderes Getier. B und ich setzen uns, bekleidet mit Faserpelzen und Daunenjacken, aufs Brückendeck und genießen ein paar »Tapas« mit einem anständigen Gin Tonic. Wir haben es geschafft. Morgen früh segeln wir die 15 Seemeilen nach »Angra dos Reis«, eine nahe gelegene Kleinstadt, zum offiziellen einklarieren nach Brasilien. Ab in die Koje.

Herzliche Grüße an Alle von B und M / SY VERA / Angra dos Reis / Ilha Grande / Brasilien



1 - In den Doldrums.
Doldrums

2 - Seegrasfelder auf 8 Grad Nord.
Seegrasfelder

3 - Regenböen voraus.
Ein Squall

4 - Die alten Segelhandbücher der »Deutschen Seewarte«…
Segelhandbuch

5 - …sind für uns noch heute aktuell. Wir wollen schließlich auch »Nach der Linie«.
Nach der Linie

6 - Buckelpiste.
Buckelpiste

7 - Herrliche Eierkuchen.
Eierkuchen

8 - Nur ein paar Wochen.
Ein Film von B+M.


9 - Die Situation am 21. August gegen 09.00 UTC, bei Tagesanbruch. Rechts oben das »Campos Oilfield«.
Kaltfront

10 - Spielball der Elemente. Noch ein Film von B+M.


11 - Wir sind da.
Wir sind da

12 - Die Route von den Kanarischen Inseln nach Brasilien.
Die Route nach Brasilien