SY VERA

Into the screaming 50th: A voyage to Tierra del Fuego and Cape Horn

033 - DER BEAGLE KANAL UND RUND KAP HOORN

Hallo Ihr Lieben!

Am zweiten Januar ziehen wir im Morgengrauen den Anker aus dem gut haltenden Grund der Bahia Buen Suceso. Es wird Zeit, den Sack zu zu machen. Bei Flaute und leicht südsetzender Strömung passieren wir Capo Buen Suceso und halten unter Maschine auf den Beagle Kanal zu. Gegen Mittag, wir spielen eben mit dem Gedanken die kommende Nacht in Puerto Español in der berühmten Bahia Aguirre zu verbringen, kommt Wind auf. SE sechs, in Böen sieben, sehr ungewöhnlich, und leider direkt in »unsere« Ankerbucht hinein. Also weiter, vor allem, wenn es so leicht geht, wie heute. Vier Stunden später stehen wir vor dem Eingang zum Beagle Kanal. Ein erhebender Augenblick. Die VERA segelt in geschichtsträchtigen Gewässern. Keine 60 Seemeilen trennen uns noch von Kap Hoorn, dem Kap der Stürme. Das Wetter passt. Wir könnten es runden, jetzt. Doch leider müssen wir zunächst nach Ushuaia, der »südlichsten Stadt der Welt«, um dort aus Argentinien auszuklarieren. Von dort müssen wir nach Puerto Williams in Chile zum einklarieren. Und erst dann können wir dort ein »Zarpe«, also eine Genehmigung für Kap Hoorn beantragen… Die Welt im Jahre 2018.

Chile und Argentinien tragen hier unten eine Art Kleinkrieg um einige auf den ersten Blick wertlose, felsige Inselchen aus, den kein Aussenstehender ohne näheres Nachforschen versteht: Nach der beinahe zeitgleichen Gründung und Unabhängigkeitserklärung beider Nationen meinten beide Seiten, das weitgehend unbewohnte Patagonien von Spanien übernommen zu haben. Nach verlustreichen kriegerischen Auseinandersetzungen wurde in einem 1881 geschlossenen Vertrag dem militärisch überlegenen Chile die alleinige Kontrolle über die Gebiete beiderseits der Magellan Straße zugesichert. Dies war für den stark auf Europa ausgerichteten Chilenischen Handel überlebenswichtig. Gewisse, weniger bedeutsame, »wertlose« Gebiete Patagoniens und einen Teil der Insel Feuerland beließ man unter Argentinischer Hoheit, wohl auch um dem unterlegenen Gegner die Gelegenheit zur Gesichtswahrung vor der Öffentlichkeit zu geben. Das Ergebnis können wir jetzt auf dem UKW Funk erleben. Alle paar Meilen müssen wir (und alle anderen Schiffe) abwechselnd der Argentinischen und der Chilenischen Marine unsere Lebensläufe buchstabieren. Auf Spanisch.

Noch vor Sonnenuntergang erreichen wir kurz vor Mitternacht die nächste gut geschützte Ankerbucht: Die Enseada Relegada, gleich neben der berühmten Estancia Harberton. BOUNCE geht zu Wasser, wir rudern an Land, und betreten das erste mal den Boden Feuerlands. Drei Tage lang erkunden wir die Gegend, vertreten uns die rostigen Seglerbeine, und atmen die Atmosphäre am Beagle Kanal, dem Ende der Welt. Die Estancia Harberton, die 1886 von dem Geistlichen Thomas Bridges und seiner Frau Mary Ann Varder (die aus Harberton in Devon stammte) gegründet wurde, wäre alleine einen ganzen Newsletter wert. B und ich lunchen zweimal auf der ehrwürdigen Estancia, nehmen an einer Führung teil, trinken Café, essen Rhabarberkuchen und schmökern in alten Artikeln und Büchern über Feuerland und seine Ureinwohner. Thomas Bridges Wörterbuch der Yaghan Sprache ist ein faszinierendes Dokument, das vieles widerlegt, was gemeinhin über Kultur und Sprache der Ureinwohner Feuerlands überliefert ist, darunter auch Charles Darwins erschreckend hochnäsigen Ansichten über die Primitivität der seinerzeit hier ansässigen Stämme.

Am sechsten Januar machen wir uns auf den Weg nach Ushuaia. Bei absoluter Flaute motoren wir die knapp 40 Seemeilen den Beagle Kanal hinauf. Schon von weitem erkennt man die überraschend große Ausdehnung der kleinen »südlichsten Stadt der Welt« am Fusse der schneebedeckten Anden. Die Lage der beiden Yachtclubs im großen Hafen ist ein wenig unübersichtlich. Onkel Hensoldt muss ran. Durch das Glas erkennen wir die beiden hohen Masten des berühmten Schoners WINDROSE OF AMSTERDAM. Sie liegt (wie wir vom AIS wissen) im Yachtclub AFASYN an der Pier. Die DANDELION, die uns wegen eintreffenden Besuches aus England in der Zwischenzeit überholt hat, liegt auch dort. Das ist fein, denn dort können wir einfach längsseits gehen. Bald sind unsere Leinen fest und sofort sind wir unter Freunden und fühlen uns angekommen. Das noch am selben Abend fällige Einklarierungsprozedere in Ushuaia erspare ich Euch an dieser Stelle. Zen.

Eine gut gelungene Woche verbringen wir in der kleinen, rustikalen Stadt mit diversen Behördengängen, Einkäufen, Diesel bunkern, erstklassige Steaks essen, dazu Kaffee und Kuchen im »
Ramos Generales«. An den meisten Tagen wehte es hart aus West, oder Nord, was wegen des regelmäßigen Kommens und Gehens im Yachtclub ständige Aufmerksamkeit bei der Bedienung von Leinen und Fendern erforderte. Ushuaia hat etwas von einem im Tal gelegenen Skiort in den Alpen, und in der Tat wird im nahe gelegenen Skigebiet den ganzen Winter über Ski gefahren. Mondäne Hotels, gute Restaurants, günstige Pensionen, zahlreiche Ausrüstungsläden mit allem, was gut und teuer ist. Es wird viel englisch gesprochen und französisch, von wilden Kerlen mit Bärten und Kletterschuhen und Holzfällerhemden, oder auch von Kreuzfahrttouristen mit viel Gore Tex und Rollkoffern. Sie fahren von hier aus in die Antarktis, das ganz große Abenteuer. Auf dem UKW hören wir den Kapitän des französischen Superschlittens LE LYRIAL den Kapitän der BREMEN um eine exklusive Schiffsbesichtigung für sich und seinen ersten Offizier bitten. Wahrscheinlich wollen sie auf dem alteingesessenen Hapag Lloyd Schiff spionieren…

Beim Abklappern der Werkstätten lernen wir die Stadt noch besser kennen. Am ersten Januar, pünktlich zum neuen Jahr, hat uns nämlich unsere auf den Kanaren neu eingebaute Eberspächer Heizung verlassen. Fehler 20. Das war kalt. Eine sehr schmerzhafte, komplette Demontage und Analyse ergibt, das der unzerstörbare, extrem robuste und für mindestens 20 servicefreie Jahre ausgelegte Vorglühstift den Geist aufgegeben hat. Die VERA schleppt seit Jahren tausende von Ersatzteilen mit. Dieses nicht. Ein Spezialist für Standheizungen in dieser gut gekühlten Stadt? Gibt es nicht. Im Bootsbedarf? Bei Toyota? Bei Mercedes? Bei VW? Beim allgemeinen Autozubehör? Fehlanzeige. Also bestellen und liefern lassen? Nach tagelanger Recherche verwerfen wir diesen Gedanken. Eberspächer hat keine Vertretung in Argentinien und es ist unmöglich, Teile aus Europa, oder den USA in Argentinien in die Finger zu bekommen. Sie werden in Buenos Aires beim Zollamt eingelagert. Für immer. Argentinien: Ein reiches Land, das von seinen korrupten Eliten bis zur Kreditunwürdigkeit ausgebeutet wurde. Der kleine argentinische Händler ist seitdem vom Welthandel abgeschnitten, ein Umstand unter dem das ganze Land sehr sichtlich leidet. Wir klarieren aus (nicht ganz so schlimm, man verfügte diesmal über Blaupapier) und verlassen den windigen und kalten Hafen gen Chile. Auf nach Puerto Williams, dem »südlichsten Dorf der Welt«.

Draussen im Beagle Kanal kommt uns die romantische
Dreimastbark EUROPA entgegen, soeben aus der Antarktis zurück, leider wegen des frischen Gegenwindes unter Maschine. Ein wirklich schönes, stolzes Schiff auf dem sonst auch noch anständig gesegelt wird. Ein großartiger Anblick vor schneebedeckten Bergen. Sechs Stunden später liegen wir in Puerto Williams sicher an einer Mooring, gleich hinter der DANDELION, fahren mit BOUNCE an Land und beginnen mit den Behördengängen. Prefectura Naval, Immigration, Zoll, Gesundheitsbehörde, wieder Prefectura Naval. Die Beamten sind überall ausgesprochen nett, aber der Papierkrieg steht dem in Argentinien in nichts nach. Immerhin: Wir dürfen, zunächst für drei Monate, in Chile bleiben.

In den nächsten Tagen erlaufen wir uns das Dorf, unternehmen eine harte Wanderungen (»Mudding«) ins Innere der Insel Navarino, trinken Café, essen Pizza und prüfen das Angebot in den drei kleinen Minimärkten vor Ort. Das ist nicht ganz unwichtig, da wir hier demnächst für drei bis vier Monate Wildnis bunkern müssen. Vor allem wegen des hier vorhandenen Stromanschlusses (Heizlüfter! Herrlich.) verlegen wir die VERA bald in eines der »Päckchen«, längsseits neben anderen Yachten, an der berühmten MICALVI. Der 1925 in Stettin aus Eisen gebaute Dampfer ist seit langem das Hauptquartier des »südlichsten Yachtclubs der Welt«. Die Bar an Bord genoss einst einen Ruf wie Donnerhall, das unsterbliche »Watering hole« der Antarktisfahrerszene. Leider ist sie nicht mehr. Niemand weiss so genau, was geschehen ist, aber die Chilenische Marine, die Eigentümer des Dampfers ist, duldet den Betrieb seit einigen Jahren nicht mehr. Das ist sehr, sehr schade und bringt uns mindestens um diverse köstliche »Pisco Sour«, die wir hier im Auftrag von Freunden verbechern wollten. Aber auch so ist es nett zwischen den anderen Yachten im Päckchen. Es ist alles dabei: Private Millionenyachten, große und kleine Expeditionsschlitten aus Alu oder Stahl, billige Bavarias, winzige, geteerte Aussteigeryachten mit hölzernen Spieren und Tauwerk aus Hanf, unter dem Kommando von langbärtigen Kapitänen. Ein bunt gemischtes Volk aus aller Welt voll abenteuerlicher Geschichten. Und Ratschlägen. Manche davon könnten sich bezahlt machen, »falls« wir in der nächsten Saison wieder hier sind, um das absolute Traumziel unter die Segel zu nehmen: Ein Törn in die Antarktis. Doch vorerst wartet noch ein anderer Job auf die VERA:
Rund Kap Hoorn.

Eine gute Woche lang warten wir auf ein passendes Wetterfenster. Sobald man die offizielle Genehmigung (»Zarpe«) der chilenischen Armada für eine Fahrt nach Kap Hoorn in der Hand hat (Zen), belagert man es normalerweise eine Zeitlang, buchtelt sich in Etappen heran, und verbringt die Nächte auf windigen Ankerplätzen mit viel Kelp und vielen Landleinen. »Unser« Wetterfenster ist insofern einmalig, als das es uns in zwei harten Tagen (und Nächten) gegen den Uhrzeigersinn durch die berüchtigte Bahia Nassau und einmal rund um die Archipele Islas Wollaston und Hermenite, um Kap Hoorn und zurück nach Puerto Williams bringen kann, immer vor dem Wind, der mit einem durchziehenden moderaten Tief passend mit uns herumdreht. Kap Hoorn im Handstreich, sozusagen. Diesen Plan setzen wir dann auch um. Nicht sehr bequem, zugegeben, aber: Ab dem Ausgang des »Paso Mantellero« jagen wir vor einem starken Westwind bei ehrfurchtgebietender Dünung knapp 30 Seemeilen im Südpazifik auf Kap Hoorn zu, und passieren es so wie es sich gehört: Bei Kälte, peitschendem Regen, heulendem Wind und schlechter Sicht. Zurück im Südatlantik biegen wir links ab und segeln bei raumendem und abschwächendem Wind zurück in den Beagle Kanal, den wir des Nachts bei absoluter Flaute bis Puerto Williams hinaufmotoren. Warum rund Kap Hoorn? Weil es da ist. Wer mehr lesen möchte, der klicke hier:
https://floatmagazin.de/orte/dem-teufel-ein-ohr-absegeln/

Es ist sicher zu früh für uns, ein Fazit zu ziehen zum segeln in den höheren Breiten. Jawohl, es ist kalt hier, und windig. Die hohen, schneebedeckten Berge aber stehen da, wie gemalt. Die vielen Tiere, Bieber, Wildpferde, Vögel, Delphine und Robben, die klare, blitzsaubere Luft, die langen Tage, die ein ganz einmaliges Licht und lange, farbenprächtige Dämmerungen bringen, fühlen sich gesund an. Die für uns ungewohnt kühlen Tage machen aktiv und sorgen für klare Gedanken. Lange Wanderungen putzen den Kreislauf durch. Sehr anregend auch die Seglerszene hier. Interessante Menschen, mit interessanten Biographien. Einige haben Zeit für uns, können sich einlassen auf einen offenen Gedankenaustausch. Das tut gut.

Unsere Glühkerze ist bestellt und per Post aus D auf dem Weg nach Chile. Sobald wir sie in der Hand haben (18 Werktage Laufzeit nach Santiago?) und die Heizung wieder läuft, werden wir uns aufmachen, gen Norden, nach Puerto Montt, wo wir den Winter verbringen wollen. 1.200sm Wildnis liegen vor uns, durch die Kanäle Chiles, die raue Inselwelt auf der Pazifikseite Patagoniens. Drei Monate Kälte, prasselnder Regen, heulender Nordwind ohne jede Versorgungsmöglichkeit, durch eine Landschaft für Feen und Elfen, die jede Mühe wert sein soll. Wir sind gespannt.


Herzliche Grüße an Alle von B und M / SY VERA / Puerto Williams / Isla Navarino / Chile



1 - Es ist geschafft: Der Eingang zum Beagle Kanal vor dem Bug der VERA.
Eingang Beagle Kanal

2 - VERA in der Bahia Relegada / Estancia Harberton.
VERA in der Bahia Relegada

3 - B betritt die Insel Feuerland.
Britta betritt Feuerland

4 - Altes Holz auf Feuerland.
Altes Holz Harberton

5 - Estancia Harberton, Feuerland.
Estancia Harberton Zeichnung

6 - Wilde Pferde unweit der Bahia Relegada.
Pferde in Harberton

7 - Pinguine am Beagle Kanal.
Pinguine

8 - Voraus Ushuaia, die »südlichste Stadt der Welt«.
Ushuaia voraus

9 - Onkel Hensoldt mit M.
Hensoldt

10 - VERA mit Artgenossen im »Yachtclub« AFASYN in Ushuaia.
VERA in Ushuaia

11 - Die Bark EUROPA begegnet uns im Beagle Kanal.
Bark Europa

12 - VERA im »Päckchen« an der MICALVI in Puerto Williams, einem 1925 in Stettin gebauten Dampfer. Das kleine weisse Boot am Bug der MICALVI ist eine J-24, ein Schwesterschiff unseres vorherigen Bootes MIA WALLACE.
Micalvi

13 - Das Ankerspill am Bug der MICALVI.
Ankerwinde Micalvi

14 - B und Kap Hoorn.
B am Kap Hoorn

15 - Seekarte Beagle Kanal und Kap Hoorn. Im Beagle Kanal seht Ihr die AIS Kennung diverser Kreuzfahrtschiffe, die von hier aus in die Antarktis fahren.
Beagle Kanal und Kap Hoorn Karte

032 - IN DIE »SCREAMING FIFTIES«

Hallo Ihr Lieben!

24.Dezember 2017, Heiligabend. 48 Grad Süd. Wir stehen auf der Höhe von Puerto Deseado, 190 Seemeilen südlich von Caleta Horno, unserem letzten sicheren Refugium. Absolute Flaute heute, nach einem feinen Segeltag mit frischem Nordwind im Rücken. Leider hält der nun nicht länger. Doch dafür haben wir den übel beleumundeten Golfo San Jorge bereits im Kielwasser. Eine Gruppe junger Albatrosse umkreiste gestern für einige Stunden die VERA. Die Seelen der hier in der Nähe unlängst bei katastrophalen Seebedingungen untergegangenen U-Boot Fahrer von der A.R.A. SAN JUAN?

Hinter uns hat sich die Crew der DANDELION entschlossen Puerto Deseado anzulaufen: Spritmangel. Wie gut, das wir den nicht haben. Puerto Deseado gilt als Herzensbrecher. In die enge Flussmündung laufen extrem schnelle und tückisch wechselhafte Tidenströme, die das ankern erschweren oder sogar gefährlich machen. Erst letztes Jahr hat dort eine deutsche Yacht aufgegeben: Gebrochene Ankerwinsch, nachdem sich eine Eisenbahnschiene im Grundgeschirr verfangen hatte. Vielleicht waren es auch die Nerven: Mit der dortigen Prefectura Naval muss man sich mindestens zweimal (zum ein- und dann nochmals zum ausklarieren) jeweils für einen halben Tag zum Zen zusammensetzen. Nix für uns.

Am Abend treibt die VERA bei rapide fallendem Luftdruck östlich von Kap Punta Medanosa, 20 Seemeilen südlich von Puerto Deseado. Dem Wettermodell zufolge sollte seit Stunden Starkwind aus West, später Südwest und dann wieder West herrschen, mit dem wir beabsichtigten weitere wichtige, wenn auch unbequeme Meilen gen Süden zu machen. Stattdessen drückt nun diese ominöse Flaute auf die Stimmung. Die schwarze Wand am Horizont sieht gar nicht gut aus. Mit den vorsorglich eingebunden zwei Reffs im Groß und dem kleinen Kutter dümpeln wir ohne Fahrt durchs Wasser in einem stark südsetzenden Ebbstrom und warten. Es wird dunkel. Gegen 22.00 Ortszeit laden mit Hilfe des Satellitentelefones ein frisches Wettermodell herunter. Dies zeigt überraschendes: Unser eigentlich einigermaßen brauchbares Wetterfenster für die Weiterreise nach Süden hat sich in Luft aufgelöst. Starke südliche Winde versperren den Weg, zumindest für 48 Stunden, evtl. auch länger. Was nun? Doch Puerto Deseado? Niemals. Hektisch konsultieren wir Handbücher und Karten. Sichere Ankerplätze gibt es wenige in dieser Gegend, und keinen einzigen weiter südlich. Die Enseada de Ferrer, knapp 10 Seemeilen entfernt, könnte laut Karten gehen. Die Beschreibungen in den Handbüchern sind spärlich. War fast noch nie jemand dort. Es ist wage von viel Kelp die Rede, der das ankern erschweren könnte, oder Propellersalat verursacht. Fünf Meter Tidenhub. Aber: Sie bietet als einzige einen vielleicht noch ausreichenden Schutz gegen den für später versprochenen starken Südost. Es wird psychologisch, schon wieder. Maschine an, Kurs auf die Enseada de Ferrer. Mitternacht. 25 Knoten aus Südwest jetzt. Mit Hilfe des Radars (geht immer noch) tasten wir uns bei absoluter Dunkelheit in die weite Bucht. Es ist finster wie im Bären…, aber der Seegang lässt nach, so wie er soll. Bei neun Metern fällt der Anker und hält. Vollgas rückwärts. Hält noch immer. Frohe Weihnachten. Das dunkle, argentinische Bier haben wir uns verdient. Und: Neben uns prustet und planscht es im Licht der Positionslaternen. Commerson Delphine, eine ganze Herde. Ab in die Koje. Der Südwind heult und rüttelt im Rigg und uns in den verdienten Schlaf.

Der Morgen enthüllt eine raue, einsame Gegend. Eine weitläufige Bucht mit fetten Kelpwiesen. Karstige, von der Sonne vertrocknete Hügel, vom Wind umtost. Karges Patagonien. Morgentee, dazu ein Ballett von zahllosen Delphinen: Neben den schwarzweißen Commersons gibt es hier noch mindestens eine weitere, wesentlich größere Art. Dort: Ein Salto! Das reinste Delphinarium. Und dort: Ein Magellan Pinguin, wie ein Pfeil unter Wasser. Man hat sich hier offenbar verabredet, leckere Fische gegen die VERA zu treiben und dort zu packen. Das große Fressen, wie üblich in der Natur. Wir verbringen, ganz unerwartet, einen recht gemütlichen ersten Weihnachtsfeiertag. Als der Dreher auf Südost wie angekündigt kommt, verlegen wir in die äusserste Südecke der Bucht, wo der Seegang dank eines Riffs und der großen Kelpfelder moderat bleibt. Es ist kalt geworden. Drei Lagen Faserpelz kommen kaum noch dagegen an. Abends, bei auf Deck prasselndem Starkregen, werfen wir zum ersten mal im Ernst unsere neue Eberspächer Heizung an. Es funktioniert! Schon bald haben wir lauschige 22 Grad unter Deck. B kocht ein Weihnachtsessen: Filetspitzen an Basmati - Butterreis, dazu eine würzige Erdnusssoße. Und eine Flasche Weisswein aus Uruguay.

Zwei Tage später sind wir wieder »auf der Piste«, mit einem frischen Wettermodell, das fast zu schön ist um wahr zu sein. Nord und später Nordwestwind, bis vor die Le Maire Straße… Am 27. Dezember 2017 um 13.40 Ortszeit überquert die VERA den 50 Breitengrad der Südhalbkugel. Die »Screaming Fifties« empfangen uns Neulinge mit feinen Segelbedingungen: 16 Knoten aus Nord, also genau von achtern, dazu Sonnenschein und Wärme. 120 überaus bequeme Seemeilen haben wir seit der Enseada Ferrer bereits abgesegelt und alle auf direktem Kurs zur Le Maire Straße, der Meerenge zwischen Feuerland und der Staateninsel, dem Tor in den ganz großen Süden, oder auch zur Hölle, das kommt wohl darauf an. Derzeit sieht noch alles gut aus. Wir picknicken in der Sonne auf dem Brückendeck und beobachten die Albatrosse. Majestätische Tiere, die fliegen können wie gemalt. Über tausend elegante Kilometer pro Tag ohne einen einzigen Flügelschlag. Was sie fressen ist nicht klar ersichtlich. Jedenfalls ist es ihnen unmöglich, in den Wellen nach Nahrung zu schnappen. Dazu müssen sie landen, und das tun sie offenbar hauptsächlich des Nachts, oder bei Flaute, die ihnen das fliegen nicht erlaubt. Albatrosse sehen eher schlecht, besitzen aber einen extrem hoch entwickelten Geruchssinn. So nehmen sie nährstoffreiche Krillfelder aus großer Entfernung wahr, und steuern diese dann zum Nachtmal an.

52 Grad Süd. Noch 160 Seemeilen bis zum Eingang der Le Maire Straße, ein Etmal also, so ungefähr. Wind werden wir haben. Bei Ankunft soll es mit über 40 Knoten aus Westnordwest wehen. Das Problem sind die starken Tidenströme in der Meerenge: Bis zu acht Knoten bei Springtide. Wind gegen Strom ist das Szenario, das es dort unbedingt zu vermeiden gilt. In der Le Maire Straße wurden schon stehende Wellen von zehn Meter Höhe gesichtet. Die Stromkabbelungen, die »Overfalls«, die »Eddies«, die »Whirlpools«, der »Malstrom« dort können ein kleines Schiff wie die VERA verschlingen. Wir müssen vorsichtig sein. Die Handbücher empfehlen ein mittiges einlaufen in die Meerenge bei Hochwasser. Am 29. Dezember also gegen 18.00 UTC. Eine Stunde danach beginnt der Ebbstrom nach Süden zu setzen. Derzeit laufen wir über sieben Knoten vor dem Wind, unter vollem Groß und ausgebaumter Genua. Zu schnell. Wir bergen das Groß, um zu bremsen. Ein Schnitt von knapp unter sechs Knoten ist das, was wir jetzt brauchen…

Hundert Seemeilen querab liegt der Eingang zur Magellanstraße, der Meerenge, die die Insel Feuerland vom Südamerikanischen Kontinent trennt. Leider sehen wir nichts davon. Zu verführerisch war die Abkürzung entlang des 65. Längengrades, die uns nun auf direktem Wege über die offene See zur Le Maire Straße führen soll. Fernão de Magalhães: Was für ein Name, was für ein Törn. Schade, das es den Mann 1521 bei einem Scharmützel um Bekehrungsfragen in den Philippinen erwischt hat. Ohne ihn schaffte es 1525 nur die VICTORIA, das zweitkleinste und einzige verblieben Schiff seines ursprünglich sehr ansehnlichen Geschwaders zurück nach Spanien, und damit wahrscheinlich als erstes Schiff um die Welt. An Bord waren da nur noch 18 Leute seiner ursprünglichen Crew von 237 Mann. Man hatte in großer Not den ehemaligen einfachen Bootsmann Juan Sebastián (später de) Elcano zum Kapitän gewählt, der dieses Vertrauen mit einer navigatorischen Spitzenleistung belohnte. Die Überlebenden genossen dauerhaften Ruhm. Die überschaubare, nasse und verfaulte Ladung Gewürze an Bord brachte immerhin noch genug Gewinn ein, um sämtliche Gläubiger der gesamten, unglücklichen Expedition zu bedienen…

53 Grad Süd. Jetzt gilt es: 35 Knoten aus Westnordwest, Groß im 2. Reff, der kleine, schwere Kutter ist gesetzt. Kurz vor Mitternacht noch immer ein dunkles Abendrot am Südwesthimmel. Es ist lausig kalt draussen und drinnen auch. Jagende Wolken vor dem halbvollen Mond. Es ist so unbequem unter und so nass an Deck, wie es sich für diese Gegend gehört. Noch 100 Seemeilen. Nicht die ersten 100 Seemeilen, die B und ich gemeinsam absegeln, aber vielleicht die haarigsten. Wünscht uns Glück.

30. Dezember. Es ist getan. Die VERA hat die Le Maire Straße erreicht und ankert friedlich in der »Bahia Buen Suceso«, ein gut gewählter Name, wie nicht nur wir finden. Charles Darwin schreibt dazu:

»A little after noon, we doubled Cape San Diego, and entered the famous strait of Le Maire. We kept close to the Fuegian shore, but the outline of the rugged, inhospitable Staten-land was visible amidst the clouds. In the afternoon, we anchored in the Bay of Good Success… The harbor consists of a fine piece of water half surrounded by low rounded mountains of clay slate, which are covered to the water’s edge by one dense gloomy forest. A single glance at the landscape was sufficient to show me how widely different it was from anything I ever beheld. At night it blew a gale of wind, and heavy squalls from the mountains swept past us. It would have been a bad time out at sea, and we, as well as others, may call this Good Success Bay.«

Die Ansteuerung gestern Nachmittag hatte es auch für uns in sich: Gute 40 Knoten über das Backstag, also Stärke acht nach Beaufort. Leicht nordsetzende Strömung, zumindest bis zu unserem Wegpunkt, sechs Seemeilen östlich von Capo San Diego, dem östlichsten Zipfel Feuerlands. Schwere See, aber für ein Boot wie die VERA nicht allzu gefährlich. Delphinherden jagen enthusiastisch in der Bugwelle. Unser »Timing« stimmt: Gegen 18 UTC kentert der Strom und beginnt nach Süden zu setzen. Von den gefürchteten »Overfalls«, den »stehenden« Wellen ist nirgendwo etwas zu sehen. Deshalb entschließen wir uns, direkt Kurs auf die »Bahia Buen Suceso« zu nehmen, bevor uns die immer stärker werdende Strömung daran vorbeiwäscht. Hoch am Wind können wir die ersehnte Bucht so gerade noch anliegen. Gegen 18.00 Ortszeit sind die Segel geborgen und der Diesel läuft. Dann fällt der Anker und hält. Schwere Fallböen aus den Bergen heulen im Rigg, aber die stören uns jetzt nicht mehr. Alles ist gut. Die Marinestation an Land ruft uns auf dem UKW und fragt, ob wir Hilfe oder Material benötigen. Dazu lädt man uns für morgen zur Silvesterparty ein. Das ist nett, aber wegen der hohen Brandung und unserem sorgfältig gestauten Dinghy lehnen wir mit echtem Bedauern ab. Die Umgebung ist rau, aber ganz anders, als die Patagonischen Wüsten: Die umliegenden Hügel und Felsen sind dicht mit Bäumen bestanden, denen man ansieht, woher der Wind weht. Hinter uns verhüllen Wolken die Sicht auf die berühmte »Isla de los Estados«, die Staateninsel: Es gibt dort einige spektakuläre Ankerplätze. Ein interessantes Projekt. Man benötigt dafür allerdings eine Sondergenehmigung der Prefectura Naval. Diese bekommt man in Ushuaia, mit viel Zen. Wir werden sehen.

Neujahr in der Bahia Buen Suceso: Fünf Seelöwen spielen, plantschen und prusten im Lichte des fast vollen Mondes um die VERA. Ein gutes Omen für 2018.


Herzliche Grüße an Alle und ein frohes neues Jahr von B und M / SY VERA / Bahia Buen Suceso / Feuerland / Argentinien / POS 54.47,9 S - 065.15,2 W


1 - Unter 990 Millibar zu Weihnachten: Und segne, was Du uns bescheret hast. Das Boot ist bereits tief gerefft.
Ruhe vor dem Sturm

2 - Unser (ungeplanter) Abstecher in die wilde Enseada de Ferrer.
Enseada de Ferrer

3 - Muntere Commerson Delphine spielen mit der VERA in der Enseada de Ferrer.
Commerson Delphine

4 - Commerson Delphine in der Enseada de Ferrer:
Ein Film von B+M.


5 - Erstmals wird uns richtig kalt. Viel Faserpelz hilft viel: M‘s hoch geschätzter »Flauschbär«.
Mein Faserpelz

6 - Regenbogen in den »Screaming Fifties«.
Tor in den Süden

7 - Albatross.
Albatross

8 - Die Sonne am südlichen Horizont.
Mitternachtssonne

9 - Cabo San Diego voraus.
Bohn Sails

10 - Die Le Maire-Straße (und einige Albatrosse) im Comic Strip.
Comic

11 - Die Le Maire Straße, Feuerland und die Isla de los Estados.
Ein Film von B und M.


12 - Buen Suceso.
Buen Suceso

13 - Unerwarteter Neujahrsbesuch in der Bahia Buen Suceso. Ein Film von B+M.


14 - Unsere Route in die »Screaming Fifties«. Die Rauten zeigen die jeweilige Mittagsposition.
Seekarte Fifties