032 - IN DIE »SCREAMING FIFTIES«
01/01/18 00:00 Argentina
Hallo Ihr Lieben!
24.Dezember 2017, Heiligabend. 48 Grad Süd. Wir stehen auf der Höhe von Puerto Deseado, 190 Seemeilen südlich von Caleta Horno, unserem letzten sicheren Refugium. Absolute Flaute heute, nach einem feinen Segeltag mit frischem Nordwind im Rücken. Leider hält der nun nicht länger. Doch dafür haben wir den übel beleumundeten Golfo San Jorge bereits im Kielwasser. Eine Gruppe junger Albatrosse umkreiste gestern für einige Stunden die VERA. Die Seelen der hier in der Nähe unlängst bei katastrophalen Seebedingungen untergegangenen U-Boot Fahrer von der A.R.A. SAN JUAN?
Hinter uns hat sich die Crew der DANDELION entschlossen Puerto Deseado anzulaufen: Spritmangel. Wie gut, das wir den nicht haben. Puerto Deseado gilt als Herzensbrecher. In die enge Flussmündung laufen extrem schnelle und tückisch wechselhafte Tidenströme, die das ankern erschweren oder sogar gefährlich machen. Erst letztes Jahr hat dort eine deutsche Yacht aufgegeben: Gebrochene Ankerwinsch, nachdem sich eine Eisenbahnschiene im Grundgeschirr verfangen hatte. Vielleicht waren es auch die Nerven: Mit der dortigen Prefectura Naval muss man sich mindestens zweimal (zum ein- und dann nochmals zum ausklarieren) jeweils für einen halben Tag zum Zen zusammensetzen. Nix für uns.
Am Abend treibt die VERA bei rapide fallendem Luftdruck östlich von Kap Punta Medanosa, 20 Seemeilen südlich von Puerto Deseado. Dem Wettermodell zufolge sollte seit Stunden Starkwind aus West, später Südwest und dann wieder West herrschen, mit dem wir beabsichtigten weitere wichtige, wenn auch unbequeme Meilen gen Süden zu machen. Stattdessen drückt nun diese ominöse Flaute auf die Stimmung. Die schwarze Wand am Horizont sieht gar nicht gut aus. Mit den vorsorglich eingebunden zwei Reffs im Groß und dem kleinen Kutter dümpeln wir ohne Fahrt durchs Wasser in einem stark südsetzenden Ebbstrom und warten. Es wird dunkel. Gegen 22.00 Ortszeit laden mit Hilfe des Satellitentelefones ein frisches Wettermodell herunter. Dies zeigt überraschendes: Unser eigentlich einigermaßen brauchbares Wetterfenster für die Weiterreise nach Süden hat sich in Luft aufgelöst. Starke südliche Winde versperren den Weg, zumindest für 48 Stunden, evtl. auch länger. Was nun? Doch Puerto Deseado? Niemals. Hektisch konsultieren wir Handbücher und Karten. Sichere Ankerplätze gibt es wenige in dieser Gegend, und keinen einzigen weiter südlich. Die Enseada de Ferrer, knapp 10 Seemeilen entfernt, könnte laut Karten gehen. Die Beschreibungen in den Handbüchern sind spärlich. War fast noch nie jemand dort. Es ist wage von viel Kelp die Rede, der das ankern erschweren könnte, oder Propellersalat verursacht. Fünf Meter Tidenhub. Aber: Sie bietet als einzige einen vielleicht noch ausreichenden Schutz gegen den für später versprochenen starken Südost. Es wird psychologisch, schon wieder. Maschine an, Kurs auf die Enseada de Ferrer. Mitternacht. 25 Knoten aus Südwest jetzt. Mit Hilfe des Radars (geht immer noch) tasten wir uns bei absoluter Dunkelheit in die weite Bucht. Es ist finster wie im Bären…, aber der Seegang lässt nach, so wie er soll. Bei neun Metern fällt der Anker und hält. Vollgas rückwärts. Hält noch immer. Frohe Weihnachten. Das dunkle, argentinische Bier haben wir uns verdient. Und: Neben uns prustet und planscht es im Licht der Positionslaternen. Commerson Delphine, eine ganze Herde. Ab in die Koje. Der Südwind heult und rüttelt im Rigg und uns in den verdienten Schlaf.
Der Morgen enthüllt eine raue, einsame Gegend. Eine weitläufige Bucht mit fetten Kelpwiesen. Karstige, von der Sonne vertrocknete Hügel, vom Wind umtost. Karges Patagonien. Morgentee, dazu ein Ballett von zahllosen Delphinen: Neben den schwarzweißen Commersons gibt es hier noch mindestens eine weitere, wesentlich größere Art. Dort: Ein Salto! Das reinste Delphinarium. Und dort: Ein Magellan Pinguin, wie ein Pfeil unter Wasser. Man hat sich hier offenbar verabredet, leckere Fische gegen die VERA zu treiben und dort zu packen. Das große Fressen, wie üblich in der Natur. Wir verbringen, ganz unerwartet, einen recht gemütlichen ersten Weihnachtsfeiertag. Als der Dreher auf Südost wie angekündigt kommt, verlegen wir in die äusserste Südecke der Bucht, wo der Seegang dank eines Riffs und der großen Kelpfelder moderat bleibt. Es ist kalt geworden. Drei Lagen Faserpelz kommen kaum noch dagegen an. Abends, bei auf Deck prasselndem Starkregen, werfen wir zum ersten mal im Ernst unsere neue Eberspächer Heizung an. Es funktioniert! Schon bald haben wir lauschige 22 Grad unter Deck. B kocht ein Weihnachtsessen: Filetspitzen an Basmati - Butterreis, dazu eine würzige Erdnusssoße. Und eine Flasche Weisswein aus Uruguay.
Zwei Tage später sind wir wieder »auf der Piste«, mit einem frischen Wettermodell, das fast zu schön ist um wahr zu sein. Nord und später Nordwestwind, bis vor die Le Maire Straße… Am 27. Dezember 2017 um 13.40 Ortszeit überquert die VERA den 50 Breitengrad der Südhalbkugel. Die »Screaming Fifties« empfangen uns Neulinge mit feinen Segelbedingungen: 16 Knoten aus Nord, also genau von achtern, dazu Sonnenschein und Wärme. 120 überaus bequeme Seemeilen haben wir seit der Enseada Ferrer bereits abgesegelt und alle auf direktem Kurs zur Le Maire Straße, der Meerenge zwischen Feuerland und der Staateninsel, dem Tor in den ganz großen Süden, oder auch zur Hölle, das kommt wohl darauf an. Derzeit sieht noch alles gut aus. Wir picknicken in der Sonne auf dem Brückendeck und beobachten die Albatrosse. Majestätische Tiere, die fliegen können wie gemalt. Über tausend elegante Kilometer pro Tag ohne einen einzigen Flügelschlag. Was sie fressen ist nicht klar ersichtlich. Jedenfalls ist es ihnen unmöglich, in den Wellen nach Nahrung zu schnappen. Dazu müssen sie landen, und das tun sie offenbar hauptsächlich des Nachts, oder bei Flaute, die ihnen das fliegen nicht erlaubt. Albatrosse sehen eher schlecht, besitzen aber einen extrem hoch entwickelten Geruchssinn. So nehmen sie nährstoffreiche Krillfelder aus großer Entfernung wahr, und steuern diese dann zum Nachtmal an.
52 Grad Süd. Noch 160 Seemeilen bis zum Eingang der Le Maire Straße, ein Etmal also, so ungefähr. Wind werden wir haben. Bei Ankunft soll es mit über 40 Knoten aus Westnordwest wehen. Das Problem sind die starken Tidenströme in der Meerenge: Bis zu acht Knoten bei Springtide. Wind gegen Strom ist das Szenario, das es dort unbedingt zu vermeiden gilt. In der Le Maire Straße wurden schon stehende Wellen von zehn Meter Höhe gesichtet. Die Stromkabbelungen, die »Overfalls«, die »Eddies«, die »Whirlpools«, der »Malstrom« dort können ein kleines Schiff wie die VERA verschlingen. Wir müssen vorsichtig sein. Die Handbücher empfehlen ein mittiges einlaufen in die Meerenge bei Hochwasser. Am 29. Dezember also gegen 18.00 UTC. Eine Stunde danach beginnt der Ebbstrom nach Süden zu setzen. Derzeit laufen wir über sieben Knoten vor dem Wind, unter vollem Groß und ausgebaumter Genua. Zu schnell. Wir bergen das Groß, um zu bremsen. Ein Schnitt von knapp unter sechs Knoten ist das, was wir jetzt brauchen…
Hundert Seemeilen querab liegt der Eingang zur Magellanstraße, der Meerenge, die die Insel Feuerland vom Südamerikanischen Kontinent trennt. Leider sehen wir nichts davon. Zu verführerisch war die Abkürzung entlang des 65. Längengrades, die uns nun auf direktem Wege über die offene See zur Le Maire Straße führen soll. Fernão de Magalhães: Was für ein Name, was für ein Törn. Schade, das es den Mann 1521 bei einem Scharmützel um Bekehrungsfragen in den Philippinen erwischt hat. Ohne ihn schaffte es 1525 nur die VICTORIA, das zweitkleinste und einzige verblieben Schiff seines ursprünglich sehr ansehnlichen Geschwaders zurück nach Spanien, und damit wahrscheinlich als erstes Schiff um die Welt. An Bord waren da nur noch 18 Leute seiner ursprünglichen Crew von 237 Mann. Man hatte in großer Not den ehemaligen einfachen Bootsmann Juan Sebastián (später de) Elcano zum Kapitän gewählt, der dieses Vertrauen mit einer navigatorischen Spitzenleistung belohnte. Die Überlebenden genossen dauerhaften Ruhm. Die überschaubare, nasse und verfaulte Ladung Gewürze an Bord brachte immerhin noch genug Gewinn ein, um sämtliche Gläubiger der gesamten, unglücklichen Expedition zu bedienen…
53 Grad Süd. Jetzt gilt es: 35 Knoten aus Westnordwest, Groß im 2. Reff, der kleine, schwere Kutter ist gesetzt. Kurz vor Mitternacht noch immer ein dunkles Abendrot am Südwesthimmel. Es ist lausig kalt draussen und drinnen auch. Jagende Wolken vor dem halbvollen Mond. Es ist so unbequem unter und so nass an Deck, wie es sich für diese Gegend gehört. Noch 100 Seemeilen. Nicht die ersten 100 Seemeilen, die B und ich gemeinsam absegeln, aber vielleicht die haarigsten. Wünscht uns Glück.
30. Dezember. Es ist getan. Die VERA hat die Le Maire Straße erreicht und ankert friedlich in der »Bahia Buen Suceso«, ein gut gewählter Name, wie nicht nur wir finden. Charles Darwin schreibt dazu:
»A little after noon, we doubled Cape San Diego, and entered the famous strait of Le Maire. We kept close to the Fuegian shore, but the outline of the rugged, inhospitable Staten-land was visible amidst the clouds. In the afternoon, we anchored in the Bay of Good Success… The harbor consists of a fine piece of water half surrounded by low rounded mountains of clay slate, which are covered to the water’s edge by one dense gloomy forest. A single glance at the landscape was sufficient to show me how widely different it was from anything I ever beheld. At night it blew a gale of wind, and heavy squalls from the mountains swept past us. It would have been a bad time out at sea, and we, as well as others, may call this Good Success Bay.«
Die Ansteuerung gestern Nachmittag hatte es auch für uns in sich: Gute 40 Knoten über das Backstag, also Stärke acht nach Beaufort. Leicht nordsetzende Strömung, zumindest bis zu unserem Wegpunkt, sechs Seemeilen östlich von Capo San Diego, dem östlichsten Zipfel Feuerlands. Schwere See, aber für ein Boot wie die VERA nicht allzu gefährlich. Delphinherden jagen enthusiastisch in der Bugwelle. Unser »Timing« stimmt: Gegen 18 UTC kentert der Strom und beginnt nach Süden zu setzen. Von den gefürchteten »Overfalls«, den »stehenden« Wellen ist nirgendwo etwas zu sehen. Deshalb entschließen wir uns, direkt Kurs auf die »Bahia Buen Suceso« zu nehmen, bevor uns die immer stärker werdende Strömung daran vorbeiwäscht. Hoch am Wind können wir die ersehnte Bucht so gerade noch anliegen. Gegen 18.00 Ortszeit sind die Segel geborgen und der Diesel läuft. Dann fällt der Anker und hält. Schwere Fallböen aus den Bergen heulen im Rigg, aber die stören uns jetzt nicht mehr. Alles ist gut. Die Marinestation an Land ruft uns auf dem UKW und fragt, ob wir Hilfe oder Material benötigen. Dazu lädt man uns für morgen zur Silvesterparty ein. Das ist nett, aber wegen der hohen Brandung und unserem sorgfältig gestauten Dinghy lehnen wir mit echtem Bedauern ab. Die Umgebung ist rau, aber ganz anders, als die Patagonischen Wüsten: Die umliegenden Hügel und Felsen sind dicht mit Bäumen bestanden, denen man ansieht, woher der Wind weht. Hinter uns verhüllen Wolken die Sicht auf die berühmte »Isla de los Estados«, die Staateninsel: Es gibt dort einige spektakuläre Ankerplätze. Ein interessantes Projekt. Man benötigt dafür allerdings eine Sondergenehmigung der Prefectura Naval. Diese bekommt man in Ushuaia, mit viel Zen. Wir werden sehen.
Neujahr in der Bahia Buen Suceso: Fünf Seelöwen spielen, plantschen und prusten im Lichte des fast vollen Mondes um die VERA. Ein gutes Omen für 2018.
Herzliche Grüße an Alle und ein frohes neues Jahr von B und M / SY VERA / Bahia Buen Suceso / Feuerland / Argentinien / POS 54.47,9 S - 065.15,2 W
1 - Unter 990 Millibar zu Weihnachten: Und segne, was Du uns bescheret hast. Das Boot ist bereits tief gerefft.

2 - Unser (ungeplanter) Abstecher in die wilde Enseada de Ferrer.

3 - Muntere Commerson Delphine spielen mit der VERA in der Enseada de Ferrer.

4 - Commerson Delphine in der Enseada de Ferrer: Ein Film von B+M.
5 - Erstmals wird uns richtig kalt. Viel Faserpelz hilft viel: M‘s hoch geschätzter »Flauschbär«.

6 - Regenbogen in den »Screaming Fifties«.

7 - Albatross.

8 - Die Sonne am südlichen Horizont.

9 - Cabo San Diego voraus.

10 - Die Le Maire-Straße (und einige Albatrosse) im Comic Strip.

11 - Die Le Maire Straße, Feuerland und die Isla de los Estados. Ein Film von B und M.
12 - Buen Suceso.

13 - Unerwarteter Neujahrsbesuch in der Bahia Buen Suceso. Ein Film von B+M.
14 - Unsere Route in die »Screaming Fifties«. Die Rauten zeigen die jeweilige Mittagsposition.

24.Dezember 2017, Heiligabend. 48 Grad Süd. Wir stehen auf der Höhe von Puerto Deseado, 190 Seemeilen südlich von Caleta Horno, unserem letzten sicheren Refugium. Absolute Flaute heute, nach einem feinen Segeltag mit frischem Nordwind im Rücken. Leider hält der nun nicht länger. Doch dafür haben wir den übel beleumundeten Golfo San Jorge bereits im Kielwasser. Eine Gruppe junger Albatrosse umkreiste gestern für einige Stunden die VERA. Die Seelen der hier in der Nähe unlängst bei katastrophalen Seebedingungen untergegangenen U-Boot Fahrer von der A.R.A. SAN JUAN?
Hinter uns hat sich die Crew der DANDELION entschlossen Puerto Deseado anzulaufen: Spritmangel. Wie gut, das wir den nicht haben. Puerto Deseado gilt als Herzensbrecher. In die enge Flussmündung laufen extrem schnelle und tückisch wechselhafte Tidenströme, die das ankern erschweren oder sogar gefährlich machen. Erst letztes Jahr hat dort eine deutsche Yacht aufgegeben: Gebrochene Ankerwinsch, nachdem sich eine Eisenbahnschiene im Grundgeschirr verfangen hatte. Vielleicht waren es auch die Nerven: Mit der dortigen Prefectura Naval muss man sich mindestens zweimal (zum ein- und dann nochmals zum ausklarieren) jeweils für einen halben Tag zum Zen zusammensetzen. Nix für uns.
Am Abend treibt die VERA bei rapide fallendem Luftdruck östlich von Kap Punta Medanosa, 20 Seemeilen südlich von Puerto Deseado. Dem Wettermodell zufolge sollte seit Stunden Starkwind aus West, später Südwest und dann wieder West herrschen, mit dem wir beabsichtigten weitere wichtige, wenn auch unbequeme Meilen gen Süden zu machen. Stattdessen drückt nun diese ominöse Flaute auf die Stimmung. Die schwarze Wand am Horizont sieht gar nicht gut aus. Mit den vorsorglich eingebunden zwei Reffs im Groß und dem kleinen Kutter dümpeln wir ohne Fahrt durchs Wasser in einem stark südsetzenden Ebbstrom und warten. Es wird dunkel. Gegen 22.00 Ortszeit laden mit Hilfe des Satellitentelefones ein frisches Wettermodell herunter. Dies zeigt überraschendes: Unser eigentlich einigermaßen brauchbares Wetterfenster für die Weiterreise nach Süden hat sich in Luft aufgelöst. Starke südliche Winde versperren den Weg, zumindest für 48 Stunden, evtl. auch länger. Was nun? Doch Puerto Deseado? Niemals. Hektisch konsultieren wir Handbücher und Karten. Sichere Ankerplätze gibt es wenige in dieser Gegend, und keinen einzigen weiter südlich. Die Enseada de Ferrer, knapp 10 Seemeilen entfernt, könnte laut Karten gehen. Die Beschreibungen in den Handbüchern sind spärlich. War fast noch nie jemand dort. Es ist wage von viel Kelp die Rede, der das ankern erschweren könnte, oder Propellersalat verursacht. Fünf Meter Tidenhub. Aber: Sie bietet als einzige einen vielleicht noch ausreichenden Schutz gegen den für später versprochenen starken Südost. Es wird psychologisch, schon wieder. Maschine an, Kurs auf die Enseada de Ferrer. Mitternacht. 25 Knoten aus Südwest jetzt. Mit Hilfe des Radars (geht immer noch) tasten wir uns bei absoluter Dunkelheit in die weite Bucht. Es ist finster wie im Bären…, aber der Seegang lässt nach, so wie er soll. Bei neun Metern fällt der Anker und hält. Vollgas rückwärts. Hält noch immer. Frohe Weihnachten. Das dunkle, argentinische Bier haben wir uns verdient. Und: Neben uns prustet und planscht es im Licht der Positionslaternen. Commerson Delphine, eine ganze Herde. Ab in die Koje. Der Südwind heult und rüttelt im Rigg und uns in den verdienten Schlaf.
Der Morgen enthüllt eine raue, einsame Gegend. Eine weitläufige Bucht mit fetten Kelpwiesen. Karstige, von der Sonne vertrocknete Hügel, vom Wind umtost. Karges Patagonien. Morgentee, dazu ein Ballett von zahllosen Delphinen: Neben den schwarzweißen Commersons gibt es hier noch mindestens eine weitere, wesentlich größere Art. Dort: Ein Salto! Das reinste Delphinarium. Und dort: Ein Magellan Pinguin, wie ein Pfeil unter Wasser. Man hat sich hier offenbar verabredet, leckere Fische gegen die VERA zu treiben und dort zu packen. Das große Fressen, wie üblich in der Natur. Wir verbringen, ganz unerwartet, einen recht gemütlichen ersten Weihnachtsfeiertag. Als der Dreher auf Südost wie angekündigt kommt, verlegen wir in die äusserste Südecke der Bucht, wo der Seegang dank eines Riffs und der großen Kelpfelder moderat bleibt. Es ist kalt geworden. Drei Lagen Faserpelz kommen kaum noch dagegen an. Abends, bei auf Deck prasselndem Starkregen, werfen wir zum ersten mal im Ernst unsere neue Eberspächer Heizung an. Es funktioniert! Schon bald haben wir lauschige 22 Grad unter Deck. B kocht ein Weihnachtsessen: Filetspitzen an Basmati - Butterreis, dazu eine würzige Erdnusssoße. Und eine Flasche Weisswein aus Uruguay.
Zwei Tage später sind wir wieder »auf der Piste«, mit einem frischen Wettermodell, das fast zu schön ist um wahr zu sein. Nord und später Nordwestwind, bis vor die Le Maire Straße… Am 27. Dezember 2017 um 13.40 Ortszeit überquert die VERA den 50 Breitengrad der Südhalbkugel. Die »Screaming Fifties« empfangen uns Neulinge mit feinen Segelbedingungen: 16 Knoten aus Nord, also genau von achtern, dazu Sonnenschein und Wärme. 120 überaus bequeme Seemeilen haben wir seit der Enseada Ferrer bereits abgesegelt und alle auf direktem Kurs zur Le Maire Straße, der Meerenge zwischen Feuerland und der Staateninsel, dem Tor in den ganz großen Süden, oder auch zur Hölle, das kommt wohl darauf an. Derzeit sieht noch alles gut aus. Wir picknicken in der Sonne auf dem Brückendeck und beobachten die Albatrosse. Majestätische Tiere, die fliegen können wie gemalt. Über tausend elegante Kilometer pro Tag ohne einen einzigen Flügelschlag. Was sie fressen ist nicht klar ersichtlich. Jedenfalls ist es ihnen unmöglich, in den Wellen nach Nahrung zu schnappen. Dazu müssen sie landen, und das tun sie offenbar hauptsächlich des Nachts, oder bei Flaute, die ihnen das fliegen nicht erlaubt. Albatrosse sehen eher schlecht, besitzen aber einen extrem hoch entwickelten Geruchssinn. So nehmen sie nährstoffreiche Krillfelder aus großer Entfernung wahr, und steuern diese dann zum Nachtmal an.
52 Grad Süd. Noch 160 Seemeilen bis zum Eingang der Le Maire Straße, ein Etmal also, so ungefähr. Wind werden wir haben. Bei Ankunft soll es mit über 40 Knoten aus Westnordwest wehen. Das Problem sind die starken Tidenströme in der Meerenge: Bis zu acht Knoten bei Springtide. Wind gegen Strom ist das Szenario, das es dort unbedingt zu vermeiden gilt. In der Le Maire Straße wurden schon stehende Wellen von zehn Meter Höhe gesichtet. Die Stromkabbelungen, die »Overfalls«, die »Eddies«, die »Whirlpools«, der »Malstrom« dort können ein kleines Schiff wie die VERA verschlingen. Wir müssen vorsichtig sein. Die Handbücher empfehlen ein mittiges einlaufen in die Meerenge bei Hochwasser. Am 29. Dezember also gegen 18.00 UTC. Eine Stunde danach beginnt der Ebbstrom nach Süden zu setzen. Derzeit laufen wir über sieben Knoten vor dem Wind, unter vollem Groß und ausgebaumter Genua. Zu schnell. Wir bergen das Groß, um zu bremsen. Ein Schnitt von knapp unter sechs Knoten ist das, was wir jetzt brauchen…
Hundert Seemeilen querab liegt der Eingang zur Magellanstraße, der Meerenge, die die Insel Feuerland vom Südamerikanischen Kontinent trennt. Leider sehen wir nichts davon. Zu verführerisch war die Abkürzung entlang des 65. Längengrades, die uns nun auf direktem Wege über die offene See zur Le Maire Straße führen soll. Fernão de Magalhães: Was für ein Name, was für ein Törn. Schade, das es den Mann 1521 bei einem Scharmützel um Bekehrungsfragen in den Philippinen erwischt hat. Ohne ihn schaffte es 1525 nur die VICTORIA, das zweitkleinste und einzige verblieben Schiff seines ursprünglich sehr ansehnlichen Geschwaders zurück nach Spanien, und damit wahrscheinlich als erstes Schiff um die Welt. An Bord waren da nur noch 18 Leute seiner ursprünglichen Crew von 237 Mann. Man hatte in großer Not den ehemaligen einfachen Bootsmann Juan Sebastián (später de) Elcano zum Kapitän gewählt, der dieses Vertrauen mit einer navigatorischen Spitzenleistung belohnte. Die Überlebenden genossen dauerhaften Ruhm. Die überschaubare, nasse und verfaulte Ladung Gewürze an Bord brachte immerhin noch genug Gewinn ein, um sämtliche Gläubiger der gesamten, unglücklichen Expedition zu bedienen…
53 Grad Süd. Jetzt gilt es: 35 Knoten aus Westnordwest, Groß im 2. Reff, der kleine, schwere Kutter ist gesetzt. Kurz vor Mitternacht noch immer ein dunkles Abendrot am Südwesthimmel. Es ist lausig kalt draussen und drinnen auch. Jagende Wolken vor dem halbvollen Mond. Es ist so unbequem unter und so nass an Deck, wie es sich für diese Gegend gehört. Noch 100 Seemeilen. Nicht die ersten 100 Seemeilen, die B und ich gemeinsam absegeln, aber vielleicht die haarigsten. Wünscht uns Glück.
30. Dezember. Es ist getan. Die VERA hat die Le Maire Straße erreicht und ankert friedlich in der »Bahia Buen Suceso«, ein gut gewählter Name, wie nicht nur wir finden. Charles Darwin schreibt dazu:
»A little after noon, we doubled Cape San Diego, and entered the famous strait of Le Maire. We kept close to the Fuegian shore, but the outline of the rugged, inhospitable Staten-land was visible amidst the clouds. In the afternoon, we anchored in the Bay of Good Success… The harbor consists of a fine piece of water half surrounded by low rounded mountains of clay slate, which are covered to the water’s edge by one dense gloomy forest. A single glance at the landscape was sufficient to show me how widely different it was from anything I ever beheld. At night it blew a gale of wind, and heavy squalls from the mountains swept past us. It would have been a bad time out at sea, and we, as well as others, may call this Good Success Bay.«
Die Ansteuerung gestern Nachmittag hatte es auch für uns in sich: Gute 40 Knoten über das Backstag, also Stärke acht nach Beaufort. Leicht nordsetzende Strömung, zumindest bis zu unserem Wegpunkt, sechs Seemeilen östlich von Capo San Diego, dem östlichsten Zipfel Feuerlands. Schwere See, aber für ein Boot wie die VERA nicht allzu gefährlich. Delphinherden jagen enthusiastisch in der Bugwelle. Unser »Timing« stimmt: Gegen 18 UTC kentert der Strom und beginnt nach Süden zu setzen. Von den gefürchteten »Overfalls«, den »stehenden« Wellen ist nirgendwo etwas zu sehen. Deshalb entschließen wir uns, direkt Kurs auf die »Bahia Buen Suceso« zu nehmen, bevor uns die immer stärker werdende Strömung daran vorbeiwäscht. Hoch am Wind können wir die ersehnte Bucht so gerade noch anliegen. Gegen 18.00 Ortszeit sind die Segel geborgen und der Diesel läuft. Dann fällt der Anker und hält. Schwere Fallböen aus den Bergen heulen im Rigg, aber die stören uns jetzt nicht mehr. Alles ist gut. Die Marinestation an Land ruft uns auf dem UKW und fragt, ob wir Hilfe oder Material benötigen. Dazu lädt man uns für morgen zur Silvesterparty ein. Das ist nett, aber wegen der hohen Brandung und unserem sorgfältig gestauten Dinghy lehnen wir mit echtem Bedauern ab. Die Umgebung ist rau, aber ganz anders, als die Patagonischen Wüsten: Die umliegenden Hügel und Felsen sind dicht mit Bäumen bestanden, denen man ansieht, woher der Wind weht. Hinter uns verhüllen Wolken die Sicht auf die berühmte »Isla de los Estados«, die Staateninsel: Es gibt dort einige spektakuläre Ankerplätze. Ein interessantes Projekt. Man benötigt dafür allerdings eine Sondergenehmigung der Prefectura Naval. Diese bekommt man in Ushuaia, mit viel Zen. Wir werden sehen.
Neujahr in der Bahia Buen Suceso: Fünf Seelöwen spielen, plantschen und prusten im Lichte des fast vollen Mondes um die VERA. Ein gutes Omen für 2018.
Herzliche Grüße an Alle und ein frohes neues Jahr von B und M / SY VERA / Bahia Buen Suceso / Feuerland / Argentinien / POS 54.47,9 S - 065.15,2 W
1 - Unter 990 Millibar zu Weihnachten: Und segne, was Du uns bescheret hast. Das Boot ist bereits tief gerefft.

2 - Unser (ungeplanter) Abstecher in die wilde Enseada de Ferrer.

3 - Muntere Commerson Delphine spielen mit der VERA in der Enseada de Ferrer.

4 - Commerson Delphine in der Enseada de Ferrer: Ein Film von B+M.
5 - Erstmals wird uns richtig kalt. Viel Faserpelz hilft viel: M‘s hoch geschätzter »Flauschbär«.

6 - Regenbogen in den »Screaming Fifties«.

7 - Albatross.

8 - Die Sonne am südlichen Horizont.

9 - Cabo San Diego voraus.

10 - Die Le Maire-Straße (und einige Albatrosse) im Comic Strip.

11 - Die Le Maire Straße, Feuerland und die Isla de los Estados. Ein Film von B und M.
12 - Buen Suceso.

13 - Unerwarteter Neujahrsbesuch in der Bahia Buen Suceso. Ein Film von B+M.
14 - Unsere Route in die »Screaming Fifties«. Die Rauten zeigen die jeweilige Mittagsposition.
