SY VERA

Into the screaming 50th: A voyage to Tierra del Fuego and Cape Horn

030 - NACH PATAGONIEN

Hallo Ihr Lieben!

Am Montag, den 11. Dezember 2017 klarieren wir bei der »Prefectura Naval« in Mar del Plata aus (Sechs Stunden Zen) und laufen am späten Nachmittag aus. Draussen steht eine hohe, alte Dünung aus Süd, die auf den Magen geht und kaum Lust macht auf Meer. Mar del Plata war gut zu uns. Wir wären gerne noch ein wenig geblieben. Und: Das, was vor uns liegt, wird gewiss kein reines Vergnügen.

Aber: Ein Wetterfenster ist da und sieht brauchbar aus. B und ich haben uns, basierend auf den vorliegenden Daten, einen feingliedrigen Plan zurecht gemacht, der uns in vier oder fünf, wenn auch zum Teil anspruchsvollen, Tagen bis Caleta Horno bringen könnte, einem kleinen, gut geschützten Fjord mitten in der Wildnis Patagoniens, ungefähr auf halber Strecke zwischen Mar del Plata und dem Eingang zum Beagle Channel.

Das wir hier solch elaborierte Pläne machen können, zeigt beispielhaft, das die Dinge im Wandel sind auf unserem Planeten. Das GFS (Global Forecast System) Computer Modell des NWS (National Weather Service) der ein Teil der NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration) der USA ist, versetzt uns in letzter Zeit immer wieder ins Staunen. Seit man dort kürzlich neue Computer installiert hat (die Rechenleistung stieg dadurch von 776 teraflops auf 5.78 petaflops), ist das GFS Modell, zumindest in den ersten drei bis fünf Tagen schon beinahe unheimlich genau. Robert Hilgendorf, der legendäre »Düwel von Hamborg«, hätte seine Freude daran gehabt, wenn er hätte erleben dürfen, was aus seinen frühen Überlegungen zur Meteorologie geworden ist. Was man mit dem GFS (und anderen Wettermodellen wie dem europäischen ECMWF) anfangen kann, zeigt derzeit der junge Franzose François Gabart, der mit seinem 30 Meter Trimaran dabei ist, alle Rekorde für eine Nonstop Weltumsegelung zu pulverisieren. Ich (M) male mir das gerade so aus: Der Junge sitzt in eben diesem Augenblick in seinem bequemen Schalensessel vor zwei supergroßen, hochauflösenden Flachbildschirmen. Dort sieht er die Hochdruck und die Tiefdruckgebiete vor sich, sieht ihre Zugbahnen, die resultierenden Winde und natürlich auch die Seebedingungen. Er verfügt quasi über zusätzliche Sinnesorgane, die weit, weit mehr leisten, als die ihm angeborenen, und ihn in die Zukunft des Wetters sehen lassen. Eine intelligent gemachte Software hilft ihm dann dabei, den besten Kurs zu finden, mit dem er dann seinen Autopiloten (den mit den Gyro Sensoren und der AI Einbindung) füttert. Der beste Kurs? Günstige Windwinkel und -geschwindigkeiten, möglichst glattes Wasser, immer schnell, aber nicht zu gefährlich für sein fragiles Boot, das bei günstigen Bedingungen in der Lage ist, über 800 Seemeilen pro Tag abzusegeln. Damit ist Gabart schneller als die tiefsten Tiefdrucksysteme und kann diese reiten, wie ein Seevogel den Wind. Ist Gabart also bereits ein »Cyborg«, ein Mischwesen aus Mensch und Maschine?

Unser Auslaufen erfolgte, dank GFS, jedenfalls zum richtigen Zeitpunkt: Am späten Nachmittag setzt sich der Nordost genau wie errechnet durch, bügelt den alten Schwell aus Süden glatt, und treibt die VERA mit acht Knoten in die Nacht. Wir folgen zunächst der Argentinische Küste, Kurs 230 Grad, also ziemlich genau gen Südwest. Die DANDELION aus England mit Sue, John und ihrem neuen Crewmitglied Michelle ist schon seit Mittag auf der Piste und sollte demzufolge etwa 20 bis 30 Seemeilen vor uns liegen. Die Jagd ist eröffnet. Passend dazu das spektakuläre Meeresleuchten im rauschenden Kielwasser des Schiffes, das aussieht, wie Abgase aus dem Triebwerk eines interstellaren Kreuzers. Und passend dazu: Ein ungeheurer südlicher Sternenhimmel, mit einer strahlenden Milchstrasse, wie wir ihn lange nicht mehr… tja, da sind sie die unvermeidlichen Wiederholungen. Werden diese Eindrücke irgendwann zur Routine, bis man sie nicht mehr wahrnimmt? Aber doch: Selten war die Luft so klar, wie gerade heute Nacht, wolkenlos, und dunkel ist es auch. Der abnehmende Halbmond geht erst gegen zwei Uhr in der Frühe auf. Ich (M) nehme mir den alten Herrn Hensoldt, setze mich raus, und starre in die Nacht. Gute Wache.

Vier Uhr früh: Es ist noch dunkel. Der Wind schralt, dreht weiter auf Nordwest. Der Spibaum, mit dem die gereffte Genua nach Luv ausgebaumt ist, muss runter. Ein nasses, unbequemes Manöver auf dem gut gespülten Vordeck. An BB voraus taucht ein einzelnes Licht auf, erst weiß, dann grün, zum Greifen nah: Die VERA rauscht an der DANDELION vorbei, als wenn sie dort vor Anker läge. Das kommt gut. Sue und John haben es bequemer als wir. Geschütztes Mittelcockpit, beheiztes Ruderhaus mit eigenem Steuerstand und begehbarem Maschinenraum darunter, und dazu einen opulenten Salon mit viel Platz für viele Gäste. Die schnelle, sportliche VERA dagegen ist kein Landhaus auf dem Wasser. Der Physiker Arthur Beiser eröffnete seinen Bestseller »The Proper Yacht« so: »I start from the premise that no object created by man is as satisfying to his body and soul as a proper sailing yacht.« Über die Frage, was eine »proper sailing yacht« ist, streiten sich seit jeher die Geister. Sicher ist, das Wohnkomfort vor Anker und im Hafen der Leistung eines Segelbootes auf See abträglich ist. Yachtkonstrukteure suchen daher immer den »besten« Kompromiss. Man kann das Dilemma so ausdrücken: »There are three parameters in boats: Performance, Comfort and Price. You can’t have them all - but need to pick two.« Wirklich komplex wird die Aufgabe allerdings erst dann, wenn man einen vierten, wesentlichen Parameter mit einbezieht: Kultur.

40 Grad Süd. Die »Roaring Fourties« empfangen uns Neulinge mit einer ominösen, öligen Flaute und stark fallendem Luftdruck. Zwei Stunden lang läuft der frisch gewartete Diesel zur Probe. Marschfahrt gen Südwest. Voll geladene Batterien und heißes Wasser im Boiler sind der angenehme Nebeneffekt. Dann setzt der angekündigte Südwind ein. Und wie. Seit Sonnenuntergang bekommen wir es mächtig eingeschenkt. In Böen 40 Knoten, 15 mehr als vorausgesagt (?), Beaufort 8 und bald 9. Dazu ist es bitterkalt. So hoch beim Wind wie es noch so eben geht prügeln wir das Boot unter kleinsten Segeln bei ständig höher werdendem Seegang weiter nach Westsüdwest. Die Wache ist nur noch unter Deck auszuhalten. Ein infernalisches Orgeln und Pfeifen ist aus dem Rigg zu hören. Grünes Wasser kracht gelegentlich an Deck, was von unten durch die wasserdichten Decksluken recht beängstigend aussieht. Hoffentlich hält alles. Der Magen, der Harndrang, Ihr versteht schon. Morgen früh soll es nachlassen und zurückdrehen. Falls dem so wäre, hätte sich der Tanz gelohnt. Der nachfolgende feine Nordost sollte bequemere Meilen gen Südwesten bringen.

Bei Tagesanbruch ist alles so, wie es sein soll. Das Baro steigt, Nordost um die 20 Knoten. Drei rußig grau gefiederte Albatrosse umkreisen die VERA. Es fällt nicht leicht, von diesem Anblick unbeeindruckt zu bleiben, selbst bei diesen eher kleinen Exemplaren. Unglaublich, wie elegant sie mit ihren extrem langen und schmalen Flügeln mit dem Aufwind der Wellenkämme spielen, abkippen und kreisen und gelegentlich mit den Flügelspitzen eintauchen. Die Altvorderen glaubten, das es sich bei diesen Vögeln um die Seelen ertrunkener Seeleute handele. Heute nimmt die Zahl der Albatrosse stetig ab. Vielleicht, weil immer weniger Seeleute ertrinken? Ob wir wohl als Seeleute gelten würden, falls wir in dieser Gegend verunglücken? Ich (M) denke, das es schlimmeres gäbe, als danach eine Zeitlang elegant im Südmeer umherzufliegen.

Die dritte Nacht auf See. Meine (M‘s) Wache: Das Baro fällt wieder, aber nicht beängstigend. Eine schwache Kaltfront aus Süden zieht draussen auf See an uns vorbei. Wie erwartet dreht der Wind allmählich über Nord auf West und dann Westsüdwest. In Etappen nehme ich die Segel dichter, bis wir hoch am Wind laufen. Der Kutter steht schon seit dem Abend, für alle Fälle. 17 Knoten über Deck jetzt, allmählich zunehmend, absolut glattes Wasser, wohl wegen der Landabdeckung. Die VERA läuft mit rauschender Bugwelle durch eine samtige Nacht: Gute sieben Knoten bei 25 Grad Lage, mit der Fussreling so gerade noch nicht im Wasser, dabei fast regungslos, beinahe schwebend. Traumhaftes segeln. Dazu: Aufgelockerte Bewölkung, glasklare Luft mit funkelnden Sternen. Es riecht nach Land, patagonischem Land. Vier Uhr früh: Im Osten beginnt es zu dämmern. Und dort: Eine feine, silbrige Mondsichel steigt eben über den Horizont. Noch schnell ein Reff ins Groß, und dann B wecken, die noch friedlich schläft. Die nächste Wache gehört ihr.

14. Dezember: Eine weitere Nacht auf See nach einem der schönsten Segeltage, die wir je erleben dürften. Kaiserwetter, perfektes segeln, weiterhin hoch am Wind, auf einem noch immer unwirklich spiegelglatten Meer. Ein gläserner Horizont, pastellfarben, ein unglaublicher Sonnenuntergang mit einer surrealen, riesengroßen Sonnenscheibe, die am Horizont verläuft wie geschmolzenes Glas. Leider wird das Wetter nicht halten. Ein »Pampero« ist unterwegs, der es ernst meint. Mit seinem Eintreffen ist morgen Nachmittag zu rechnen. Wir könnten es theoretisch bis Caleta Horno schaffen. Dort aber dürfte es dann bereits mit 50 Knoten wehen, Windstärke zehn. Da wäre es nicht empfehlenswert, in einem engen, unbekannten Fjord herumzurangieren und mit langen Landleinen zu hantieren, die das Handbuch dringend empfiehlt. Was nun? Puerto Santa Elena wäre eine Möglichkeit. Die Bucht liegt 40 Seemeilen näher an unserem jetzigen Standort, ist gut gegen West- und Südwestwinde geschützt und soll gut haltenden Ankergrund aufweisen… Mitternacht: Leichter Südwind, rapide fallender Luftdruck. Es wird psychologisch: Aus Nervosität binde ich zwei Reffs ins Groß. Nur keine unangenehmen Überraschungen jetzt… 03.00 Uhr: Blinder Alarm. Flaute aus allen Richtungen. B und ich wechseln die Besegelung im 10 Minuten Takt, dann läuft der Diesel.

Im Morgengrauen sitzt eine Gruppe Albatrosse voraus im Wasser. Sie ignorieren die herannahende VERA. Bei Flaute sind diese großen Vögel praktisch flugunfähig, da das Schlagen mit den langen Schwingen zuviel Energie verbraucht. Aber nun taucht ein großer Seelöwe direkt neben Ihnen aus dem Wasser und zeigt Interesse. Sie murren vernehmlich und rudern eifrig in die Gegenrichtung. Der Seelöwe taucht unter ihnen durch und auf der anderen Seite wieder auf. Er will spielen. Das folgende, zeterzwitschernde Gruppenstartmanöver mit viel Geflatter und pitscherndem auf dem Wasser Laufen dürft Ihr Euch denken.

Voraus öffnet sich der Eingang nach Puerto Santa Elena. Wir sind da, werfen Anker mit 80 Meter Kette und fahren ihn mit Vollgas rückwärts ein. Der »Pampero« kann, laut Barometer, nicht mehr weit sein und auf den wollen wir vorbereitet sein. Die Szene an Land wirkt karg, aber meditativ. Keine Gebäude, keine Menschen, keine Bäume, keine Tiere. Harmonisch wirkende pastellgrüne Hügel, Felsen, Gräser, gelbe Steppe unter einem hellblauen Sommerhimmel. Wir gehen in die Koje und machen einen ausgiebigen Mittagsschlaf. 546 gute Seemeilen in dreieinhalb guten Tagen liegen im Kielwasser. Am Abend, es weht bereits mit über 30 und später 40 Knoten aus Westsüdwest, kämpft sich die DANDELION gegen heulende Böen auf den Ankerplatz. Das ist gut. In dieser abgelegenen Wildnis ist es angenehmer, in guter Begleitung zu sein. Übermorgen, wenn der Sturm vorüber ist, segeln wir gemeinsam nach Caleta Horno…


Herzliche Grüße an Alle von B und M / SY VERA / Puerto Santa Elena / Argentinien


1 - Aufgehende Mondsichel auf dem Weg nach Patagonien.
Mondsichel

2 - Hoch am Wind in den »Roaring Fourties«: Seht Euch das spiegelglatte Wasser an!
Am Wind

3 - Gesetzt sind neben dem Groß die Genua und der Kutter: Das gibt Sicherheit und mehr Optionen im Falle eines Wetterwechsels.
Genua und Kutter

4 - Ankunft in Puerto Elena. Der nächste »Pampero« ist im Anmarsch.
Puerto Santa Elena

5 - Unsere Route nach Patagonien. Die Rauten zeigen die jeweiligen Mittagspositionen.
Unsere Route nach Patagonien